Lübcke-Untersuchungsausschuss: Bericht zur 3. öffentlichen Sitzung im hessischen Landtag am 28.05.2021

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Am 28. Mai fand die dritte öffentliche Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Mord an Walter Lübcke im hessischen Landtag statt. Als Sachverständiger war Dr. Matthias Quent vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft geladen, der über Radikalisierungsprozesse von Stephan Ernst und die rechte Szene in Kassel und Deutschland sprach.

Nachdem im nicht-öffentlichen Teil der Sitzung beschlossen wurde, welche Zeug*innen zukünftig geladen werden sollen, begann Matthias Quent im öffentlichen Teil der Sitzung zunächst drei Radikalisierungsebenen zu unterscheiden. Demnach gebe es eine Mikro-, eine Meso- sowie eine Makroebene, auf der Radikalisierung stattfinde. Auf der Mikroebene seien familiäre Beziehungen, Freundeskreise und soziale Abhängigkeiten entscheidend. Bei der Mesoebene gehe es um subkulturelle Werte- und Normenvorstellungen sowie soziale Bewegungen. Auf der Makroebene stünden gesamtgesellschaftliche Diskurse und Wertvorstellungen im Fokus.
Hinsichtlich der Mikroebene hob Matthias Quent die politische Wirkphase von Stephan Ernst in der FAP (Freiheitlich Deutsche Arbeiterpartei) hervor, mit Bezug auf dessen persönliche Radikalisierungseinflüsse (seine Familie, die Liebesbeziehung und Bewegungskarriere). Die Entwicklung der extremen Rechten sei bis zum Jahr 1990 eine rechtsextreme Offensive gewesen – die Radikalisierung ging mit Gewalt einher (z.B.: FAP, Wiking-Jugend und/oder Gewalt gegen Geflüchtete). Durch die Verbotswelle ab Mitte der 1990er Jahre hätte die rechte Szene mit Anpassung reagiert (Gründung von Kameradschaften, Ausbau der NPD, die verschärfte Diskussion über bewaffneten Kampf im Untergrund). Diese Zeit sei wichtig zu beleuchten, weil die Beziehungsnetzwerke von damals nicht mehr tragfähig gewesen seien, was sich auch im Milieu von Stephan Ernst und Markus Hartmann zeigte. Die rechte Organisierung habe sich nicht durch Mitgliederorganisationen ausgezeichnet, sondern durch informelle Netzwerke.

Matthias Quent konzentrierte sich in seinem Vortrag primär auf die Mesoebene und damit auf die Kassler Neonaziszene, in der sich Ernst bewegte. Diese sei klassischerweise als Mischszene zu begreifen, in der sich rechte Parteien, Hooligans, freie Kameradschaften, klandestin agierende Gruppen, Terror-affine Strukturen sowie organisierte, kriminelle Kreise bewegten. Vor allem steche dabei die Band „Oidoxie“, die Terror-affine Struktur „Combat 18“ und „Sturm 18“ hervor. Hauptthema der extremen Rechten sei Migration, zu dem sie parlamentarisch wie außerparlamentarisch agierten. Die Szene sei überregional nach Südniedersachsen, in Thüringen zu Thorsten Heise sowie nach Dortmund vernetzt. Seit der Selbstenttarnung des NSU sei es zu einer Verunsicherung der Naziszene gekommen, da Angst vor Repression bestanden habe. Dennoch sei die Szene weitgehend unbehelligt geblieben. Dies habe sie jedoch verändert: einige Gruppen organisierten sich klandestiner oder suchten durch den gesamtgesellschaftlichen Diskurs um Migration mehr die bürgerliche Öffentlichkeit. In diesem Zuge gründete sich 2014 KAGIDA als Kasseler Ableger von PEGIDA, in der sich diese Mischszene und auch Stephan Ernst und Markus Hartmann wiederfanden. Die Bildung von KAGIDA, deren Organisierungsfähigkeit sowie deren Anwesenheit bei der Bürgerversammlung von Lohfelden sei für Ernst ein entscheidender Schritt im Radikalisierungsprozess bis zum Mord an Walter Lübcke gewesen.

Auf einer Makroebene reihte Matthias Quent den Mord an Walter Lübcke in eine Reihe von rechtsterroristischen Aktionen und Gruppen in Deutschland ein. Hierbei erwähnte er den Angriff auf die OB-Kandidatin Henriette Reker in Köln, die Freitaler Bürgerwehr, die detonierte Splitterbombe an der Hamburger S-Bahn-Station Veddel oder Franco A., der mutmaßlich Anschläge auf progressive Teile der Zivilgesellschaft und Politiker*innen geplant hat. Auf internationaler Ebene hob er den tödlichen Angriff auf die britische Abgeordnete Jo Cox sowie den Sturm auf das Kapitol in den USA hervor. Quent machte damit deutlich, dass Teile der extremen Rechten die Wahrnehmung teilten, der Staat sei in die Hände des Feindes gefallen. Das eigene Volk sei existentiell bedroht, womit Angriffe auf Vertreter*innen des Staats legitimiert würden. Diese Motive seien auch bei Ernsts Mordanschlag präsent gewesen. Stephan Ernst entwickelte sich von einem gewalttätigen Neonazi zu einem „Neuen Rechten“, er bestellte beim „Antaios Verlag“ und spendete für das rechte Kampagnenprojekt „Ein Prozent“ seine GEZ-Gebühren in Form einer Überweisung.
Zum Schluss des Vortrags betonte Matthias Quent, dass die Großdemo der rechten Mischszene in Chemnitz ein weiteres entscheidendes Triggerereignis für Ernst gewesen sei.

In der anschließenden Befragung stellte Matthias Quent zunächst nochmals dar, dass die verschiedenen rechtsextremen Bewegungen die politische Durchsetzung der Ungleichwertigkeit von Menschen anstrebe. Zu rechtsextremen Einstellungen und Verhaltensweisen gehörten die Vorstellung der Ungleichwertigkeit von Menschen, das Absprechen von Menschenwürde, der Völkische Nationalismus, sowie Antisemitismus, Chauvinismus und das Verharmlosen des Nationalsozialismus. Darüber hinaus wollten extreme Rechte dabei meist einen völkischen Ausschluss, die Abschaffung von Minderheitenrechten und diktatorische statt demokratische Regierungsformen vorantreiben. Zur Bekämpfung der extremen Rechten bedürfe es, so Quent, Präventionsarbeit durch die Zivilgesellschaft sowie eine staatliche Bekämpfung von Rassismus, Hasskriminalität und menschenfeindlichen Haltungen.
Quent empfahl einen Paradigmenwechsel: Ein menschenrechtsorientiertes Paradigma, in dem es den Straftatbestand der Vorurteilskriminalität und einen eigenen Straftatbestand für Rassismus gäbe wie in Großbritannien, sowie einen besonderen Schutz von Minderheiten. Es müssten in diese Richtung nun ganz konkrete Maßnahmen seitens der Bundesländer für eine Gesetzesänderung getroffen werden.
Quent lehnte die These vom Sachverständigen van Hüllen ab, dass Stephan Ernst Walter Lübcke aus einer persönlichen Fehde heraus getötet hätte. Für Quent stelle dies eine Täter-Opfer-Umkehr dar und eine gefährliche Relativierung politischer Gewalt. Dass Rechtsextreme Vertreter:innen des Staates als Feinde betrachteten, sei ein neues und ernstzunehmendes Phänomen in Deutschland.
Auf Nachfrage, ob und wie sich die rechte Gewalt in den letzten Jahren geändert habe und wie sie jetzt einzuschätzen sei, antwortete Quent, dass es schwierig sei, eine Prognose für mögliche Taten abzugeben. Es könne versucht werden, Menschen, die sich radikalisierten, zu erkennen sowie kritisch mögliche Abkühlungen zu hinterfragen, da extreme Rechte wieder tätig werden könnten.
Der Rechtsterrorismus habe sich ausdifferenziert, meinte der Sachverständige. So sei beispielsweise beim Attentäter in München zunächst keine Zugehörigkeit zur lokalen rechten Szene zu erkennen gewesen, ganz ähnlich war es mit dem Attentäter in Halle. Quent führte aus, dass Gewalt auch aus der Mehrheitsgesellschaft kommen würde und zwar in Form von struktureller Gewalt.

Im weiteren Verlauf der Befragung unterschied Quent die nordhessische Neonaziszene nur in personeller Hinsicht von anderen. Bemerkenswert fand er jedoch, dass die Kasseler Szene im Zuge der Ermittlungen um den NSU und dessen Netzwerk im harten Kern unbehelligt geblieben und die Ermordung von Halit Yozgat nicht ausreichend aufgeklärt worden sei. Es sei für ihn auch unverständlich, weshalb die NSU-Akten nicht der Öffentlichkeit freigegeben werden. Er habe nicht den Eindruck, dass die Sicherheitsbehörden nach den NSU-Morden ausreichend sensibilisiert seien und Antifa-Recherchen häufig näher am Geschehen seien als die Sicherheitsbehörden. Häufig fehle es an Gerichten sowie bei der Polizei an der richtigen Einordnung extrem rechter Motive, sodass mehr sozialwissenschaftliche Analysen für die Sicherheitsbehörden sinnvoll wären.

Auf Nachfrage erläuterte Matthias Quent, dass der Begriff der Abkühlung, wie er bei Stephan Ernst verwendet wurde, irritierend sei. Eine „Abkühlung“ sei keine ideologische Distanzierung und mit gesellschaftlichen Triggereignissen sei rechter Aktivismus wieder möglich.

In der Befragung versuchten Vertreter*innen der AfD Quent regelmäßig zu delegitimieren, da er sich positiv auf Antifa-Recherchen bezog und für Katharina König von der Linkspartei in Thüringen im Landtag gearbeitet hatte. Verschiedene andere Fraktionen beschwerten sich über den fehlenden Sachbezug der AfD. Quent quittierte die Provokation lediglich damit, dass er Antifa-Recherchen sowie die Arbeit von Katharina König sehr schätze.

Matthias Quent kam in der Befragung auf die Makroebene der Radikalisierung zurück und erläuterte, dass ein gesellschaftspolitisches Klima von menschenfeindlichen Positionen, Verschärfung von Asylgesetzen und auch Racial Profiling zur Bestätigung von rechten Täter*innen und zur Verunsicherung der Betroffenen rechter Gewalt beitrage. Es zeige sich auch, dass Rechtsterrorist:innen meist gesellschaftlich integriert bleiben könnten.

Matthias Quent schloss damit, dass die Lockerung des Datenschutzrechts im Bereich der Löschfristen von Verfassungsschutzakten keine taugliche Lösung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus sei.

So endete die dritte öffentliche Sitzung des Untersuchungsausschusses, in der Quent deutlich machte, wie wichtig antifaschistische Recherchen für das Erkennen rechter Netzwerke ist und dass es den Sicherheitsbehörden immer wieder an diesem Wissen mangele.

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