Lübcke-Untersuchungsausschuss: Bericht zur 1. öffentlichen Sitzung im hessischen Landtag am 31.03.2021

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Am 31.03.2021 fand die erste öffentliche Sitzung des Lübcke-Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag statt. Als Expert*innen waren der freie Journalist Joachim Tornau und Kirsten Neumann vom „Mobilen Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus“ Hessen geladen. Außerdem wurde Rudolph van Hüllen als Dozent der Polizeihochschule und ehemaliger Leiter der Abteilung „Linksextremismus“ im Bundesamt für Verfassungsschutz befragt.

Der erste Sachverständige, Joachim Tornau, arbeitet seit etwa 20 Jahren zur Kasseler Naziszene und sollte seine Einschätzung zur Szene rund um Ernst und Hartmann abgeben.
Tornau machte in seinem Vortrag über die nordhessische Naziszene sechs Charakteristika aus.
Er begann zunächst mit der Größe der militanten, gewaltbereiten Szene, die er im harten Kern auf ca. 100 Personen schätzte. Diese bestehe aus Freien Kameradschaften, Parteien, Hooligans und Rockern. Besonders hob er die Organisierung von KAGIDA zwischen den Jahren 2014 und 2016 hervor. Auch diese Gruppe war bei der Bürgerversammlung 2015, bei der Walter Lübcke gesprochen hatte, anwesend.
Des Weiteren betonte er die personelle Konstanz der Szene. Nazis wie Stanley Röske, Markus E., Alexander S., Christian W., Dirk W. die auch das Umfeld von Ernst und Hartmann bildeten, waren in verschiedenen Organisationen wie freie Kameradschaft, der FAP, Combat 18, der NPD oder wie Christian W. zuletzt in der AfD organisiert.
Anschließend berichtete Tornau über die überregionale Vernetzung der Szene. Diese sei sehr eng mit NPD-Kader Thorsten Heise aus Thüringen sowie mit der Naziszene aus Niedersachsen verbunden. So habe Ernst selbst bei Feierlichkeiten von Heise teilgenommen oder Sicherheitsaufgaben für diesen übernommen.
Als vierten Punkt hob Tornau die Anti-Antifa Arbeit der Nazi-Szene hervor. Dabei werden Daten und Namen von Antifa-Aktivist*innen gesammelt und im Internet veröffentlicht. Ernst und Hartmann waren damit ebenfalls im „Freien Widerstand Kassel“ beschäftigt. Bei Ernst wurde eine CD mit Informationen über 60 Personen, die er als Feinde deklariert hatte, gefunden. Laut Tornau spähten Ernst und Hartmann Lübcke vor dem Mord mehrere Male aus und konnten dabei von ihrer Erfahrung aus den Anti-Antifa-Aktivitäten profitieren.
Als weiteren Punkt berichtete Tornau über die hohe Gewaltbereitschaft der nordhessischen Naziszene, die eine längere Tradition habe. So wurde 2003 durch das Küchenfenster eines Lehrers geschossen, der auf Ernsts Feindesliste stand. Eine Person wurde aus rassistischen Gründen 2003 niedergestochen. 2006 wurde Halit Yozgat in Kassel vom NSU ermordet, 2008 gab es einen Überfall durch die „Freie Kameradschaft Schwalm Eder“ auf einen Jugendclub in der Region. 2009-2010 wurde gegen die Kameradschaft allein wegen 60 Straftaten ermittelt. 2010 kam es von „Sturm 18“ zu einem Angriff auf eine Moschee in Korbach, 2011 gab es von derselben Gruppe einen Angriff auf einen Obdachlosen. 2016 fand der Angriff auf Ahmed I. in Lohfelden statt.
Als letzten Punkt führte Tornau aus, dass die Szene gut im bürgerlichen Leben vernetzt sei. So war Ernst beispielsweise im Schützenverein aktiv und in seinem Beruf gut integriert. Vom Schützenverein und seiner Arbeitskolleg*innen habe er Bestätigung für seine rassistischen Positionen erfahren.

Im Anschluss seines Vortrags ging Tornau noch kurz auf den Prozess gegen Ernst und Hartmann vor dem OLG Frankfurt ein. Er hob heraus, dass ihm aufgefallen sei, wie wenig die ermittelnden Polizist*innen über die rechte Szene Nordhessens Bescheid gewusst hätten. So sei es der SOKO etwa schwergefallen, in Videos über die Bürgerversammlung von Walter Lübcke die KAGIDA-Aktivist*innen zu identifizieren.

In der anschließenden Befragung hob Tornau erneut die personelle Kontinuität sowie die Gewaltbereitschaft des harten Kerns der Szene hervor. Bezüglich der Sicherheitsbehörden wie der Polizei wiederholte er den Eindruck, dass diese zu wenig Kenntnisse über die rechte Szene in Nordhessen besitze. Des Weiteren stellte Tornau klar, dass die These des Verfassungsschutzes, Ernst und Hartmann seien seit 2014 abgekühlt, so nicht haltbar sei. Es sei üblich, dass Nazis dieses harten Kerns, denen die beiden auch angehörten, in manchen Phasen lediglich unauffälliger agierten, aber die Bereitschaft Gewalt anzuwenden, häufig bleibe. Des Weiteren sei offensichtlich, dass die beiden eine lange Geschichte in der organisierten Naziszene sowie ein umfassendes Vorstrafenregister hatten. Die zahlreichen Übergriffe von Ernst in den vergangenen 20 Jahren, das Bekanntwerden 2007, dass Hartmann Waffen für einen „Guerillakampf“ hortete, zeigte schon früh ihre Gewaltbereitschaft. Die Teilnahmen 2016 an einer NPD-Kundgebung, sowie 2017 an dem Aufmarsch der AfD in Chemnitz zeigten statt eines Abkühlens lediglich ein anderes Auftreten. Tornau stellte ebenfalls heraus, dass Verbindungen von Ernst und Hartmann zum NSU-Netzwerk möglich seien.

Sachverständige Neumann plädiert dafür, die Expertise von Betroffenen ernstzunehmen

Als zweite Sachverständige wurde Kirsten Neumann vom „Mobilen Beratungsteam gegen Rassismus und Rechtsextremismus Hessen“ befragt. Neumann machte in ihrem Eingangsstatement deutlich, dass eine der wichtigsten Lehren aus der Aufarbeitung der NSU-Morde war, das Wissen der Betroffenen rassistischer Gewalt nicht zu ignorieren und es ernst zu nehmen. Dort existiere eine hohe Sensibilität dafür, dass sich rassistische Taten gegen sie als Gruppe richten und dass diese in einem engen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Diskursen und Diskursverschiebungen stehen. Immer wieder werde von den Betroffenen jedoch die Erfahrung gemacht, dass ihre Perspektive nicht wahrgenommen wird und ihre Hinweise darauf, dass es sich bei Taten um rechten Terror handeln könnte ignoriert werden, während Vorstellungen von kriminellen migrantischen Milieus sich umstandslos in umfangreiche Ermittlungen übersetzen. Während die Botschaft rechten Terrors bei den Betroffenen also ankomme, werde sie von der Öffentlichkeit und den Sicherheitsbehörden oft systematisch ignoriert. Dies liege nicht zuletzt an falschen Definitionen davon, was Terrorismus sei, die häufig auf einen Angriff auf „das System“ verengt seien. Es brauche daher eine bessere Definition von rechtem Terror und eine umfangreiche Auseinandersetzung mit Rassismus.
Auch in der Arbeit der mobilen Beratung werde immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Opfern rechter Gewalt nicht geglaubt wird und sie stattdessen oft selbst als Verdächtige behandelt oder für die Taten verantwortlich gemacht werden. So könne die extreme Rechte immer wieder No-go-Areas in Nordhessen etablieren.
In den Sicherheitsbehörden müsse sich daher stärker mit Prozessen der „Viktimisierung“ befasst werden, da insbesondere die Polizei oft Teil einer sekundären Viktimisierung sei. Diese entstehe dann, wenn nach einer konkreten Tat (der primären Viktimisierung) das Umfeld des Opfers falsch reagiert, z.B. durch eine Täter-Opfer Umkehr. Solche Prozesse sind insbesondere bei rechtem Terror häufig zu beobachten.
Die Selbstorganisation von Betroffenen ist oft eine Maßnahme, um diesen Prozessen entgegen zu wirken. Auch für den Untersuchungsausschuss sei es wichtig, diese Menschen nicht bloß als Opfer zu betrachten, sondern zu verstehen, dass sie über Wissen und Expertise verfügen, die für die Einordnung der Taten und das Identifizieren noch offener Fragen zentral sind.
Als völlig unbrauchbar in der Praxis habe sich dagegen die so genannte „Extremismustheorie“ erwiesen. Vertreter*innen dieser Theorie zeigten sich immer wieder überrascht über rechten Terror und nähmen dabei offensichtlich nicht einmal die lange Kontinuität rechten Terrors zur Kenntnis, die sich allein für Hessen nachweisen lasse. Politisch Verantwortliche sollten daher immer den Kontakt zu den Betroffenen suchen und nach Kontinuitäten und Entwicklungen der extremen Rechten fragen, statt sich von vermeintlichen Experten etwas über „Einzeltäter“ erzählen zu lassen.
Für Nordhessen habe sich mit dem Aufkommen von KAGIDA beobachten lassen, dass die extreme Rechte sich an Bewegungen und Parteien orientiert, die nach ihrer Auffassung erfolgsversprechend sind. Auf den Versammlungen von KAGIDA demonstrierten militante Neonazis und NPD-Mitglieder gemeinsam mit AfD-Mitgliedern, Reichsbürgern, der Identitären Bewegung und Menschen, die man keiner dieser Gruppen zuordnen konnte. Schon damals sei die Befürchtung geäußert worden, dass sich aus dieser Gemengelage eine Gefahr für z.B. Geflüchtete oder deren Unterkünfte ergeben kann. Die Mobile Beratung habe in dieser Zeit aber auch immer wieder Politiker*innen beraten, die sich Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt sahen.
Dass diese Verschiebung des Feindbilds und der Narrative von Rechts durchaus gesellschaftlich wahrgenommen wurde, zeige sich auch daran, dass die mobile Beratung nach dem Mord an Walter Lübcke enorm viele Anfragen bekommen hätte, ob der Mord einen rechten Hintergrund haben könnte.
Die Konzepte, mit denen die Sicherheitsbehörden und Geheimdienste versuchten, an das Thema rechter Terror heranzugehen, griffen hier strukturell daneben und könnten die spezifischen Strukturen und Entwicklungen nicht abbilden. Die Intransparenz, die insbesondere beim Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz augenfällig sei, führe in Kombination damit zu einem starken Vertrauensverlust, gerade bei Betroffenen von rechtem Terror. Aus der Praxis der mobilen Beratung wisse man, dass Betroffene einen sehr hohen Bedarf an Informationen haben. Oft organisierten sie sich daher selbst z.B. in Bürger*innen-Initiativen wie der „Initiative 6. April“ oder der „Initiative Nachgefragt“.
Zur Frage des „Abkühlens“ von Neonazis erklärte Neumann, dass sie diesen Begriff nicht für zielführend hält. Es kann verschiedene Gründe geben, warum Neonazis mehr oder weniger aktiv in der Szene sind, diese könnten sowohl privater wie auch strategischer Natur sein. Insbesondere auch das gesellschaftliche Klima sei für Neonazis wichtig: wenn ihr „normales“ Umfeld anfange ihnen zu widersprechen, sei das oft der Moment, in dem Neonazis sich zurückzögen. Solange vor allem im persönlichen Umfeld die extrem Rechten Positionen geteilt, geduldet oder verharmlost werden, sei kaum von einem Rückzug auszugehen.
Zum Schluss ihres Statements ging Neumann noch auf vier Anschläge aus Nordhessen ein, die der rechten Szene zuzuordnen und die weiterhin unaufgeklärt seien. Die Schüsse auf den Kasseler Wagenplatz „Am Hafen“ 2001, der sich in unmittelbarer Nähe zu Hartmanns damaliger Wohnung befand; der Mordanschlag auf Ahmed I. 2016, der mitten in die rassistisch aufgeladenen Debatten um die Kölner Silvesternacht und die Anfangsphase der KAGIDA-Demonstrationen fiel; der Schuss durch das Küchenfensters eines Kasseler Lehrers, der bis heute nicht wolle, dass sein Name genannt wird, weil er seine Familie schützen möchte; und nicht zuletzt der Anschlag mit einer Übungshandgranate auf das autonome Zentrum „Bazille“ in Kassel 1994.
In der anschließende Fragerunde wurde zunächst thematisiert, wie man Rückzüge und Ausstiege von Neonazis bewerten könne, wie sich die extreme Rechte in Nordhessen und bundesweit entwickelt habe, wie die Arbeit der Sicherheitsbehörden aus Perspektive der mobilen Beratung zu bewerten sei und allgemein zur Arbeit der mobilen Beratung. Im Wesentlichen konnten hier einige Punkte aus dem Eingangsstatement präzisiert und weiter ausgeführt werden. Auf die abschließende Frage, welche Empfehlungen zum Umgang mit der Perspektive der Betroffenen sie dem Ausschuss empfehlen würde, antwortete Neumann, dass es zentral sei, Betroffene wie Ahmed I. in den Ausschuss zu laden und sie dort nicht nur als Opfer sondern als Sachverständige zu betrachten.

Als letzter Sachverständiger wurde Rudolf van Hüllen, ehemaliger Leiter der Abteilung „Linksextremismus“ im Bundesamt für Verfassungsschutz, angehört. Der Vortrag von Herrn van Hüllen lieferte wie schon beim NSU-Untersuchungsausschuss keine für den Untersuchungsauftrag des Ausschusses relevanten Erkenntnisse. In den ersten 20 Minuten seines Vortrags sprach dieser nur über die linke Szene in Berlin und die islamistische Szene in Brüssel/Molenbeek. Er hatte keine genaue Kenntnis über die nordhessische Nazi-Szene und bezog seine Informationen lediglich aus den hessischen Verfassungsschutzberichten. Die Tat von Ernst stellte er entpolitisiert als persönliche Fehde zwischen ihm und Walter Lübcke dar. Als Grund dafür, dass die Behörden Ernst und Hartmann aus den Augen verloren hatten, nannte van Hüllen die gesetzlichen Löschungsfristen für den Verfassungsschutz und den damit zusammenhängenden Datenschutz.

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