„Zum Bereich Obduktion mache ich von meinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch“ – UNA Hanau, 8. Sitzung, 01.04.22

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In der achten öffentlichen Sitzung des hessischen Untersuchungsausschusses zum rassistischen Anschlag in Hanau sagten erstmals Angehörige von Polizei und Staatsanwaltschaft aus, die am Einsatz in der Tatnacht teilweise in führenden Positionen beteiligt waren. Die Befragung beschränkte sich jedoch auf die Komplexe um den Täter und was die Behörden im Vorfeld über ihn wussten. Der Einsatz in der Tatnacht selbst wurde weitgehend ausgeklammert und soll zu einem anderen Zeitpunkt behandelt werden, weshalb der Erkenntnisgewinn der Sitzung sich in Grenzen hielt. Die leitende Staatsanwältin der Tatnacht machte in Bezug auf die Obduktion der Opfer von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.

Die Sitzung am 1. April 2022 wurde im Vorfeld mit Spannung erwartet. Es war nach der Anhörung von Angehörigen und Sachverständigen die erste Sitzung, in der Beteiligte am Einsatz in der Tatnacht vernommen wurden. Die Initiative 19. Februar veröffentlichte am Tag zuvor eine Pressemitteilung, in der sie eine Reihe an Fragen veröffentlichte, die sich an die Beteiligten des Einsatzes stellen. Zu Beginn der Sitzung gab der Ausschussvorsitzende Marius Weiß (SPD) jedoch bekannt, dass sich der Ausschuss geeinigt hätte, den Einsatz in der Tatnacht weitgehend aus der heutigen Befragung auszuklammern und zu einem späteren Zeitpunkt zu thematisieren. Heute wolle man sich auf die Beweisanträge zum Motiv des Täters und den Kenntnissen hessischer Behörden zum Täter und dessen Vater vor der Tat am 19.02.20 konzentrieren.

Als erster Zeuge des Tages wurde der Kriminalhauptkommissar (KHK) S. vernommen. Für Verwunderung sorgte, dass sein Name in der öffentlichen Sitzung nicht genannt sondern nur abgekürzt wurde und dass er laut Weiß in Begleitung eines weiteren BKA-Beamten erschien, der oben auf der Besuchertribüne Platz nahm. Beides war bei Anhörungen von Polizist:innen in anderen hessischen Untersuchungsausschüssen (NSU und Lübcke) nie der Fall. Warum der Ausschuss zum Anschlag in Hanau hier offenbar ein besonderes Schutzinteresse von Polizist:innen für notwendig hält, sodass die Namen einiger Zeug:innen der Öffentlichkeit vorenthalten werden, ist unklar.

S. begann sein Eingangsstatement indem er den Angehörigen der Opfer sein Beileid aussprach und erklärte seine Rolle in den Ermittlungen. Er sei seit dem 21. Februar 2020 beim BKA in die Ermittlungen eingebunden und als Leiter der Personenermittlungen eingesetzt gewesen. Das BKA hätte hierzu die besondere Aufbauorganisation (BAO) Hanau gegründet. In seiner Funktion hätte er die Ermittlungen gegen den Täter, zu dessen Motiv und mögliche weitere Beteiligte geleitet. Hierzu habe er zahlreiche Zeugen vernommen, Durchsuchungen angeleitet, Asservate sichergestellt und die Website und Texte des Täters gesichtet. Am 8. Dezember seien die Ermittlungen eingestellt worden, da keine weiteren Täter festgestellt werden konnten.

Zu der Forderung nach lückenloser Aufklärung betonte er, dass auch nach zwei Jahren leider Fragen offen blieben, dies aber nicht am fehlenden Aufklärungswillen seiner Kollegen liege, sondern daran, dass sie mit ihren Ermittlungsmethoden an Grenzen kämen. Als Beispiel nannte er, dass sie die letzten Stunden vor dem Zugriff im Täterhaus nicht rekonstruieren und technisch nicht klären konnten, wer vor der Tatnacht die Website des Täters aufrief, auf der er Videos und Texte veröffentlichte, die seine Ideologie Preis gaben. Dies sei etwa 560 mal passiert. Angehörige seien im Juni 2020 zu Gesprächen eingeladen worden, wo ihnen die Grenzen der Ermittlungen erklärt worden sein soll.

Den Täter charakterisierte S. so, wie es Behörden bereits zuvor getan haben: introvertiert, Einzelgänger mit Neigung zu cholerischen Wutausbrüchen, „ausländerkritische“ bis „ausländerfeindliche“ Haltung. Das Wort Rassismus nutzte S. an dieser Stelle nicht. Erst als er von einem SPD-Abgeordneten später darauf angesprochen wurde, erklärte er dass es sich hierbei um einen explizit rassistischen Anschlag gehandelt habe. Seit 2013 habe der Täter eine Waffenerlaubnis gehabt und sei Mitglied im örtlichen Schützenverein gewesen. Neben eigenen Lang- und Kurzwaffen habe sich der Täter kurz vor der Tat bei einem örtlichen Waffenhändler eine Pistole der Marke Česká geliehen (eine Waffe der selben Marke nutzte auch der NSU für seine Mordserie). Fünf mal sei der Täter in Akten der Polizei als Beschuldigter aufgeführt worden, davon viermal in Bayern. Eine Eigen- oder Fremdgefährdung sei nicht erkannt worden.

Im April 2019 habe der Täter mit der Arbeit an den Textdokumenten begonnen, in denen er seinen Verschwörungswahn und seine politische Gesinnung deutlich machte. Im selben Jahr reiste er für ein Schießtraining in die Slovakei und beabsichtigte, weitere Schießtrainings wahr zu nehmen. Im Oktober habe er sich mit einem Privatdetektiv getroffen, den er beauftragen wollte, Erkenntnisse über die Geheimorganisationen, die ihn verfolgt haben sollen, heraus zu finden. Im November 2019 habe er Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft (StA) Hanau und der Generalbundesanwaltschaft (GBA) eingereicht, die jeweils ca. 35 Seiten lang waren und und den später veröffentlichten Texten glichen. Im Dezember 2019 habe er bei einer Münchener Firma Videoaufnahmen angefertigt, für seine späteren Bekennervideos. Spätestens hier sei er fest zu einer Gewalttat entschlossen gewesen. „Seine Begründung war fertig“, so S. vom BKA. Im Februar sei der Täter schließlich in die finale Phase übergegangen, habe die URL seiner Website an sieben Wände gesprüht, Skizzen angefertigt, sich Waffen besorgt und auf die Durchführung vorbereitet.

Zum Motiv des Täters fasste S. zusammen, was ebenfalls gemeinhin bekannt ist: Beim Täter habe sich eine psychische Erkrankung mit seiner politischen „ausländerfeindlichen“ Gesinnung verbunden. Der Täter habe unter eine Paranoiden Schizophrenie gelitten und sich von Geheimorganisationen verfolgt gesehen. Hinzu käme eine politische Gesinnung, in der gewissen „Nationen“ das Existenzrecht absprach. Der Täter habe ein „Interesse“ am 2. Weltkrieg und dem Nationalsozialismus gehabt, allerdings ohne indizierte Literatur zu besitzen, so S. Laut ihm habe das BKA keine Hinweise auf Kontakte online oder persönlich zu rechten Strukturen oder Einzelpersonen feststellen können.

Nach dieser längeren Einführung des Polizisten S. begann die Befragung durch die Abgeordneten. Der Vorsitzende Weiß fragte nach Kenntnissen der hessischen Behörden über den Täter vor der Tat. Der Polizist führte aus, was die Kriterien für eine überregionale Speicherung seien (nur Täter oder Tatverdächtige, nur schwere oder überregionale Straftaten). Bei einer Anzeige gegen den Täter 2004 habe die hessische Polizei bei den bayrischen Behörden Behörden angefragt, ob dort etwas gegen ihn vorlege und bekam so Kenntnis von der Anzeige gegen ihn von 2004. Damals hatte eine Kommilitonin des Täters ihn angezeigt, weil er sie gestalkt habe. Er wurde damals kurzzeitig zwangseingewiesen, habe eine fortführende Behandlung aber abgelehnt. Beim Gesundheitsamt im Main-Kinzig-Kreis habe hierzu zum Zeitpunkt der Ermittlungen nichts vorgelegen. Staatsschutzrelevante Erkenntnisse hätten laut ihren Ermittlungen weder in Hessen noch Bayern vorgelegen.

Auf Nachfrage der SPD-Abgeordneten Hofmann, ob und wie der Täter vor der Tat strafrechtlich in Erscheinung getreten sei nannte S. erneut die Anzeigen gegen den Täter: 2002 wegen Stalking der Kommilitonin, 2007 wegen Körperverletzung eines Wachmanns der Universität, 2010 wegen Sozialleistungsbetrug zusammen mit dem Vater und zwei Straftaten 2018, eine davon wegen Betäubungsmitteln. Alle Verfahren hierzu wurden eingestellt. Ob und inwieweit aus diesen Strafanzeigen Rückschlüsse auf die spätere Tat führen könne, könne er nicht beurteilen, sagte KHK S.

Auf Nachfrage führte S. die Anzeige wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln weiter aus: 2018 habe sich der Täter in einer Ferienwohnung in Bayern mit einer Escort-Dame getroffen. Er habe der Frau ein „weißes Pulver“, Utensilien für SM-Praktiken (welche die Frau ablehnte) und Waffen gezeigt, darunter ein Gewehr und ein großes Messer). Daraufhin habe die Frau Angst vor dem späteren Täter von Hanau bekommen und einen Bekannten informiert, der die Polizei rief. Diese sei gekommen, habe aber dann schließlich nur wegen eines angebrochenen Joints im Aschenbecher gegen die Frau und den späteren Täter ermittelt. S. gab auf Nachfrage zu, dass im Zuge der Ermittlungen zum Anschlag niemand die Polizisten von damals vernommen hat und das Wissen hierzu lediglich aus Akten stammt.

Auf Nachfrage erklärte S. zu der Website, dass sie nicht mehr rekonstruieren konnten, wer die Website des Täters vor der Tat abgerufen hätte und ob sie im Zusammenhang mit den von diesem anfertigten Graffitis mit der URL der Seite stand. Die Webdesignerin, die für den Täter die Seite erstellte, habe glaubhaft gemacht, dass sich keine der Inhalte auf der Website befänden hätten, als sie die Seite erstellte. Zur Reise des Täters in die USA nach Wyoming erklärte S., dass der Täter sich dort mit Maklern getroffen hätte weil er wohl überlegt hatte dort hin zu ziehen, davon aber anscheinend wieder Abstand genommen hätte. Zum Vorfall am Jugendzentrum in Kesselstadt 2017 und/oder 2018, als ein Bewaffneter Mann im Gebüsch hockte und die Jugendlichen bedrohte erklärte er, dass sich nicht ausmachen ließ, ob es sich dabei um den Täter gehandelt habe. Jedenfalls seien in seinem Haus keine der Kleidungsstücke gefunden worden, auf die die Beschreibung der Jugendlichen passte. Kreditkartendaten des Täters hätten nahegelegt, dass er sich um diesen Vorfall herum in München aufgehalten habe, weshalb dies eher unwahrscheinlich sei. Ob der zeitliche Abstand zwischen der Kreditkartennutzung in München und dem Vorfall in Hanau Kesselstadt nicht womöglich ausgereicht habe, um ihn nicht als Täter des Vorfalls am JUZ auszuschließen, wurde er nicht explizit befragt.

Nach einigen weiteren Fragen ohne besondere neue Erkenntnisse endete die Befragung von KHK S.

 

Staatsanwältin Türmer macht von Aussageverweigerungsrecht Gebrauch

Als zweites wurde die Regierungsinspektorin R. vom BKA befragt. Auch ihr Name wurde in der öffentlichen Sitzung nicht ausgesprochen und auch sie erschien in Begleitung von eines Kollegen vom BKA, mit dem sie sich zwischendurch sogar absprach, bezüglich dessen, was sie aussagen kann. In der sehr kurzen Befragung stellte sich allerdings heraus, dass sie lediglich mit administrativen Tätigkeiten befasst war und in dieser Funktion z.B. verschiedene Vermerke von Kolleg:innen zu anderen Vermerken zusammenfasste, jedoch keinerlei eigene Kenntnisse über die Ermittlungen hatte. Die Befragung endete daher nach wenigen Minuten ohne jegliche Erkenntnisse.

Als nächstes wurde die Oberstaatsanwältin a.D. Gabriele Türmer befragt. Geladen war sie zu den Themenkomplexen, was die Behörden vor dem Anschlag am 19.02. zu dem Täter und seinem Vater wussten, über die Motive des Täters und zum Komplex Obduktion der Leichname, die ohne Information der Angehörigen darüber durchgeführt wurden. Zu Beginn erklärte Türmer, in Bezug auf Fragen zur Obduktion von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu machen, da hierzu noch ein Dienstaufsichtsverfahren gegen sie laufe.

Sie berichtete im Folgenden von der Tatnacht, wie sie über die Schüsse informiert wurde, dass es mehrere Tote und eine Vielzahl an Verletzten gab und wie sie zur polizeilichen Einsatzzentrale fuhr. Dort sei auch der Bereitschaftsstaatsanwalt Dr. Voigt gewesen. Ihre Aufgabe sei es zunächst gewesen, mit den vorgesetzten Behörden wie der Landesstaatsanwaltschaft Kontakt zu halten. Schon früh habe ein rassistisches Motiv im Raum gestanden, da zahlreiche Opfer aufgrund ihres Namens offenbar einen Migrationshintergrund hatten. Schon früh war ihr klar, dass dies ein Verfahren sei wird, dass von der GBA übernommen werden würde. Solange dies aber nicht formell geschehen sei, war sie für die Funktion der Staatsanwaltschaft vor Ort zuständig. Im Laufe des frühen Vormittags am 20.02. habe sie einen Anruf der GBA erhalten, dass diese das Verfahren übernehme.

In der Einsatzzentrale der Polizei wurde über den Anruf eines Zeugen das Kennzeichen des Täters festgestellt und der Halter ermittelt. Polizisten seien dann zu dem Wohnhaus des Täters gefahren und hätten das Auto vor der Tür gesehen. Im Auto lagen Patronengurte und Holster, hätten diese berichtet. Daraufhin hätte man mit einer Drohne Wärmebildaufnahmen des Hauses gemacht und dadurch festgestellt, dass sich hierin drei Personen aufhielten. Sie habe das Okay zur Erstürmung des Hauses gegeben, da Gefahr im Vollzug gewesen sei. Über Zeugen hätte sie die Information erreicht, dass der Täter Videos im Internet veröffentlicht habe. Diese hätten sie nach der Erstürmung des Hauses und dem Auffinden des toten Attentäters und seiner toten Mutter, sowie dem lebenden Vater, in der Einsatzzentrale angeschaut.

Zu den Erkenntnissen, die sie zum Täter hatte, sagte Türmer, vom ihrem subjektivem Wissen ausgehend habe sie in der Tatnacht gar nichts über diesen gewusst. Die Nachschau aufgrund von Akten habe ergeben, dass es 2010 gegen den Täter und dessen Vater ein Verfahren wegen Sozialbetrug gegeben habe, dass aber eingestellt worden sei. 2013 habe es eine Anzeige des späteren Täters gegen Unbekannt gegeben, auch diese wurde eingestellt. Im November 2019, also drei Monate vor der Tat, stellte der spätere Täter auf über 30 Seiten eine Anzeige bei der StA Hanau gegen unbekannte staatliche Geheimdienste. Sie war zu dem Zeitpunkt nicht da und habe die Anzeige erst nach dem 19.02. zu Gesicht bekommen. In dem Schreiben habe der Täter sehr ausführlich „seine Sicht der Verhältnisse aus unser Land dargelegt“, so Türmer. Er habe darin vermeintliche Erlebnisse aus seiner Säuglingszeit und Kindheit wiedergegeben und wüste Verschwörungstheorien verbreitet. Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens durch diese Anzeigte wurde abgelehnt.

Zum Vater des Täters habe es zahlreiche Vorgänge gegeben, mit einem sei sie selbst befasst gewesen. 2016 hatte er Anzeige gegen den Hanauer Oberbürgermeister wegen Wahlbetrugs gestellt, das Verfahren wurde eingestellt, die Beschwerde dagegen verworfen. Dies sei ihr einziger Bezug zum Vater des Täters. Erinnerungen daran habe sie nicht, sie kenne das nur noch aus den Akten. Zuvor hätte der Vater des Täters 2014 eine Anzeige gegen einen Richter wegen Rechtsbeugung gestellt, dies wurde eingestellt. Gegen den Vater wiederum habe es 2014 eine Anzeige wegen Erpressung gegeben, da wisse sie nicht, wie das ausging. 2010 habe es gegen den Vater eine Anzeige wegen falscher Verdächtigung und Beleidigung gegeben und dann gebe es noch sieben weitere Vorgänge aus den Jahren 2009, 2011, 2018 und 2019.

Auf die Frage des Ausschussvorsitzenden Weiß zur Motivlage des Täters wiederholte Türmer, der erste Verdacht auf ein rassistisches Motiv habe sich relativ früh ergeben. Nach der Sichtung der Videos des Täters „bestand kein Zweifel mehr“, dass es um „eindeutig rassistisches Motive“ und ein „völlig wirres Weltbild“ ginge. Aus dem Anzeigenschreiben von November 2019 sei dies aber nicht abzuleiten gewesen. Zu dem Zeitpunkt habe niemand hierzu einen Anlass gesehen, ihr Kollege habe sachlich völlig richtig und legal gehandelt und keinen Anlass für Ermittlungen gesehen.

Der rassistische Anschlag in Wächtersbach [2019 hatte ein Mann aus seinem fahrenden Auto auf den Geflüchteten Bilal M. geschossen nachdem er dies in der Kneipe angekündigt hatte und sich selbst danach das Leben nahm, Anm. d. A.] habe die Aufmerksamkeit der Behörden „aufs höchste geschärft“. Der Anschlag habe bestätigt, dass Menschen, die Zugang zu Waffen hätten, die auch missbräuchlich verwenden könnten, so Türmer. Sie habe regen Kontakt zur Waffenbehörde gepflegt. Immer, wenn sie Anklage erhoben habe wegen rassistischer oder irgendwelche radikaler Verfahren, habe sie grundsätzlich die Waffenbehörde informiert. Man könne aber nicht alles „bis in letzte Detail abklären, wenn es sonst keinen Verdacht gibt“ sagte Gabriele Türmer.

Der CDU-Abgeordnete Müller fragte Türmer in der anschließenden Befragung, das Schreiben des Täters von 2019 sei also aus ihrer Sicht merkwürdig aber kein Anlass gewesen zu handeln, was Türmer bejahte. Sie hätte wahrscheinlich keinen Ansatz gehabt. Es gebe für StAs am Tag bis zu 50 Neuvorgänge, da habe man keine Zeit 35 Seiten zu lesen, so Türmer. In ihrer Abteilung gehe jeden Tag mindestens ein Schreiben ein von einem „der absolut schräg drauf ist“. „Notorische Querulanten“ fielen darunter, die habe man immer. Dann gebe es Schreiben, wo man nur sagen könne, es sind „völlig Verrückte“. Da ständen völlig wirre Dinge drin, die mit der Realität nicht zu tun hätten, davon gebe es etliche pro Monat. Und dann gebe es noch Anzeigen von Menschen, die sich verfolgt fühlen, die aus einem schrägen Blick einer Nachbarin eine Drohung ableiten würden. Das seien Berge von Anzeigen, die abgearbeitet und gelesen werden müssten. Trotzdem gebe es Schreiben, wo man sage, da muss man vorsichtig sein. Es sei aber im Nachhinein schwer zu sagen wie sie gehandelt hätte, wenn sie das Schreiben gelesen hätte. Sie glaube nicht, dass sie aufgrund dieses Schreibens davon ausgegangen wäre, dass von dem Schreibenden eine Bedrohung ausgehe, sagte Türmer im Ausschuss. Ihr durchschnittlicher Arbeitstag sei 12 Stunden lang, da bräuchten sie natürlich mehr Leute.

Auf die Frage der SPD-Abgeordneten Hofmann berichtete Türmer über ihre Einschätzung des Einsatzes: In der Einsatzzentrale war alle „hochkonzentriert“. Obwohl viele junge Beamte darunter waren sei es professionell abgelaufen. Sie beschrieb die Situation als hoch angespannt, auch für sie, da ihr klar war, dass sie das Verfahren abgeben würde. Da sei man „doppelt und dreifach besorgt“ dass man nichts übersehe und alles in zu einhundert Prozent Ordnung sei. Die LINKEN-Angeordnete Sönmez fragte danach, wann in der Einsatzzentrale die Adresse des Täters bekannt gewesen sei. Ihren Informationen nach sei dies gegen 23 Uhr gewesen, der Erstürmung des Hauses sei aber erst gegen 01:30/2:00 passiert. Türmer sagte, als sie gegen 23 Uhr in der Einsatzzentrale eintraf, sei ihr die Adresse noch nicht bekannt gewesen.

Es folgten noch eine Reihe weiterer Nachfragen von mehreren Abgeordneten zur rassistischen Motivation des Täters oder zum Kontakt mit der GBA, jedoch ohne besondere Erkenntnisse. Türmer erklärte, dass sie rückblickend aus ihrer Wahrnehmung nicht erkennen könnte, was bei dem Einsatz hätte besser gemacht werden können.

 

Anhörung Polizeidirektor Dirk F.

Als letzter Zeuge des Tages wurde der Polizeidirektor Dirk F. zu Kenntnissen der Behörden über den Täter, sein Motiv und dessen Vater vernommen. F. ist inzwischen beim Polizeipräsidium (PP) Südosthessen, dass u.a. auch für Hanau zuständig ist. Bis 2012 war er u.a. für die Leitung des SEK Frankfurt zuständig. Am 19. Februar 2020 war er beim PP Frankfurt und leitete den Sonderlagenstab, welchen das PP Frankfurt in der Tatnacht, zwei bis drei Stunden nach Beginn des Einsatzes, einsetzte. In diesem Führungs- oder Sonderlagenstab kämen unterschiedliche Experten der Polizei zusammen, so F.: Eine Beratergruppe, Verhandlungsgruppe, Spezialeinheiten, Psychologen und die Pressestelle etwa. Dort seien Informationen verarbeitet und umgesetzt worden.

Zu den Informationen über den Täter führte er aus, dass er bis zur Tatnacht keine Kenntnis von dem Täter hatte. Über den Anruf eines Zeugen erfuhr die Polizei das Kennzeichen und führte eine Halterabfrage durch, wodurch sie den Täter und dessen Wohnhaus ermittelten, in dem auch dessen Eltern wohnten. Eine Abfrage ergab, dass auf ihn zwei Kurzwaffen zugelassen sind. Weitere relevanten Erkenntnisse hätten nicht vorgelegen. Bei Internetrecherchen sei man auf die auf seiner Website veröffentlichten Videos des Täters gestoßen und hätte diese gesichtet, das Manifest sei vom zentralen psychologischen Dienst gesichtet und analysiert worden. Darin sei eine schwere psychische Erkrankung und „ausländerfeindliche Tendenzen“ ersichtlich gewesen. Es habe bei ihnen relativ lange gedauert, bis klar gewesen sei, wer die Opfer waren. Eine erste, „einigermaßen vollständige Liste“ mit den Namen der Getöteten erhielt er zwischen 5 und 6 Uhr morgens, so F.

Zum zeitlichen Ablauf am Wohnhaus des Täters berichtete F., dass sie zuerst umfangreiche Aufklärungsmaßnahmen betrieben hätten, da sie befürchteten, dass der Täter sich im Haus aufhielt. Als er übernahm sei das Täterhaus schon abgesichert gewesen. Oberste Priorität des Einsatzes am Täterhaus sei gewesen, dass keine weitere Person geschädigt werden würde. Der Anschlag sei eine furchtbare Tat gewesen, so Dirk F., der den Angehörigen sein Beileid aussprach. Auch die Beamten, die den Zugriff am Haus durchführten, seien zu schützen gewesen. Eine Drohne hätte Wäremebildaufnahmen des Hauses gemacht, wodurch sie zwei Personen im Haus lokalisieren konnten, eine dritte vermuteten sie dort. Über Telefon und Megafon habe es Versuche gegeben, Kontakt mit den Bewohnern aufzunehmen, dies habe aber nicht gefruchtet. Auf die Frage, warum es mehrere Stunden von der Identifizierung des Täters durch sein Kennzeichen bis zur Erstürmung des Hauses dauerte, antwortete der Polizist, dass dies an der intensiven Vorbereitung der Zugriffsmaßnahmen gelegen habe. Es sei einem „sehr guten Vorgehen“ schuldig. Er könne aber nachvollziehen, dass es für Außenstehende sehr lange wirkt.

Der SPD-Abgeordnete Yüksel sprach ihn darauf an, dass es nach der Ansicht von Sachverständigen Defizite in der Eingangsstruktur gegeben habe. Dies habe er nicht feststellen können, meinte Dirk F.. Als der Abgeordnete der CDU sagte, ein Gutachter habe gesagt, die Zahl der eingesetzten Polizisten in der Tatnacht sei eine prekäre Lage, entgegnete der Polizist, dass bei solchen Situationen immer Kräfte aus umliegenden Stationen hinzu kämen. In der Tatnacht sei Unterstützung aus Frankfurt, Südhessen und Bayern hinzu gekommen. Auf die Frage nach der Betreuung von Angehörigen gab er an, er selbst sei mit der Situation am Täterhaus beschäftigt gewesen aber er könne versichern, dass seine Kollegen ihr bestmöglichstes versucht hätten, die Familien zu betreuen. Wenn Opferfamilien nicht so betreut worden sein, wie man sich das vorstellt, sei das ein Versäumnis und tue ihm Leid.

Auf Fragen zur Motivlage des Täters berichtete der Polizist, dass als er übernahm noch eine Tathypothese galt, nachdem die Morde aus dem Bereich Organisierte Kriminalität gekommen sein, da im Umfeld des Täterhauses mehrere Hells Angels festgestellt worden sein. Dies sei zuerst noch die Haupthypothese der Polizei gewesen, hätte sich aber nicht bestätigt und sei dann verworfen worden, auch nach der Rücksprache mit szenekundigen Beamten aus dem Bereich „Rocker“.

Auf die Frage der SPD-Abgeordneten, ob das Motiv des Täters die polizeilichen Maßnahmen beeinflusst hätten, gab der Polizist an, man müsse trennen zwischen Gefahrenabwehr und Ermittlungen. Sein Schwerpunkt sei es gewesen, die Gefahrensituation aufzulösen. Für diese operative Arbeit am Haus spielte das Motiv keine Rolle. Für die späteren Ermittlungen dann schon. Auf die extrem rechten und rassistischen Chatgruppen innerhalb des Frankfurter SEK angesprochen, das an der Erstürmung des Hauses beteiligt war, antwortete Dirk F., dass er keine Einschätzung zu den Einstellungen der Kollegen treffen könne. Zum Zeitpunkt des Einsatzes hätten die Kollegen keine Kenntnisse über die Hintergründe des Zugriffs gehabt, das Motiv des Täters habe hierfür eine sehr sehr untergeordnete Rolle gespielt.

Kurz darauf endete die Befragung von Dirk F. und damit auch die achte öffentliche Sitzung.

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