Lübcke-Untersuchungsausschuss: Bericht zur 2. öffentlichen Sitzung im hessischen Landtag am 23.04.2021

0

Am 23. April fand die zweite öffentliche Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Mord an Walter Lübcke im hessischen Landtag statt. Als Sachverständige waren zwei Juristen geladen, die ihre Gutachten zur Rolle des Verfassungsschutzes in der Sicherheitsarchitektur, dessen Aufgaben, Arbeitsweisen und rechtlichen Rahmenbedingungen vorstellten. Dabei kamen sie zu grundsätzlich verschiedenen Einschätzungen.

Der erste geladene Sachverständige war Prof. Dr. Gunter Warg von der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung (HS Bund). An der HS Bund können sich angehende Mitarbeiter*innen der Nachrichtendienste im dualen Studium auf ihre zukünftige Tätigkeit vorbereiten. Warg führte in seinem Vortrag über Prinzipien und rechtliche Rahmenbedingungen des Verfassungsschutzes aus, dass dieser sich als „Frühwarnsystem“ und „analytischer Informationsdienstleister“ verstehe. Er agiere im Vorfeld von Straftaten; „Sammeln und Auswerten“ sei sein gesetzlicher Auftrag. Dabei bedürfe es „tatsächlicher Anhaltspunkte“ bzw. Tatsachen, die den Verdacht einer verfassungsfeindlichen Bestrebung rechtfertigen, als Voraussetzung für das Aktivwerden des Verfassungsschutzes, „erst recht für die anschließende Speicherung“ der erhobenen Daten, so Warg. Der Verfassungsschutz fokussiere sich dabei immer auf Personenzusammenschlüsse, auch Personen, die „Teil oder Motor“ einer extremistischen Bestrebung sind, sowie „Gewalttäter“. Grundsätzlich sei dessen Arbeit jedoch nicht auf Individuen, sondern auf „Personenzusammenschlüsse“ ausgerichtet. Dies sei historisch begründet, da Einzelpersonen keinen Umsturz zugetraut worden sei. Die Erhebung, Verarbeitung, Speicherung und Weitergabe der Daten unterlägen dabei dem Grundsatz der Erforderlichkeit. Die Behörde dürfe also nicht beliebig Daten sammeln und auswerten, sondern nur die, die sie nach ihrem gesetzlichen Auftrag auch braucht, so der Sachverständige Warg.

Die Dauer der Speicherung und Verarbeitung der erhobenen Daten sei gesetzlich geregelt. So müsse das LfV alle fünf Jahre prüfen, ob gespeicherte Daten noch erforderlich sind. Nicht mehr erforderliche Daten seien zu löschen. Löschen bedeute dabei die physische und technische Unkenntlichmachung der Daten. Daten könnten länger gespeichert werden, wenn bewiesen sei, dass die Daten noch notwendig sind, oder, wenn die Daten aus Gründen der Beweisnot noch verfügbar sein müssen, aber für die alltägliche Arbeit nicht mehr genutzt werden dürfen. So war es auch im Fall von Stephan Ernst, dessen Personenakte beim LfV Hessen 2015 nicht gelöscht, sondern gesperrt wurde. Damit waren die Daten für die Arbeit des LfV nicht mehr nutzbar, da sie einer Datennutzungseinschränkung unterlagen. Fälle, in denen Daten aus diesem Grund nicht gelöscht würden, seien aber „ganz klar Ausnahmefälle“, so Warg.

Für die Trennung von Polizei und Verfassungsschutz gebe es eine Vielzahl von Regeln und Trennungsgeboten, so der Sachverständige Warg. Es gebe ein befugnisrechtliches Trennungsgebot, das besagt, dass der Verfassungsschutz im Gegensatz zur Polizei etwa keine Beschlagnahmungen oder Hausdurchsuchungen durchführen darf. Seit 2013 gebe es zudem ein Informationstrennungsgebot, das einen „Free Flow of Information“ zwischen den Behörden verhindern soll. Es besagt, dass die Datenbestände beider Behörden grundsätzlich getrennt sein müssen und ein Informationsaustausch nur sehr begrenzt stattfinden darf. Dabei stellte Warg klar, dass die Aufklärung extremistischer Straftaten seiner Ansicht nach nicht am Trennungsgebot scheitere.

Mit Blick auf den NSU und die Rolle der Verfassungsschutzbehörden im NSU-Komplex sprach Warg von einer „größeren Awareness“ der Behörden, dass „Personen vom Radar abtauchen“ können und einem stärkeren Augenmerk auf „Einzeltäter“.

Sachverständiger Rusteberg für Abschaffung des VS in bisheriger Form

Der zweite geladene Sachverständige an diesem Tag war Dr. Benjamin Rusteberg, der einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Uni Göttingen innehat. Auch er stellte zu Beginn seiner Ausführungen die Rolle und Aufgaben des Verfassungsschutzes auch in Abgrenzung zur Polizei dar, erklärte jedoch, dass es „nach wie vor umstritten“ sei, inwieweit es ein Trennungsgebot gäbe. Das Trennungsgebot habe seiner Meinung nach „von Anfang an“ nicht richtig funktioniert, so Rusteberg. Dieses Problem sei für ihn nur zu lösen, würde sich der Verfassungsschutz auf eine Aufgabe fokussieren: Entweder als Institution für Frühaufklärung und Beratung, etwa mit politischen Lagebildern, wofür dieser aber keine Überwachungsbefugnisse bräuchte. Oder als Behörde, die im Vorfeld von Gefahren aktiv wird.

Das Trennungsgebot führe dazu, dass sich innerhalb der Behörde eine „institutionelle Logik“ herausbilde, die Informationsgewinnung vor Austausch bzw. Nutzung dieser Informationen stellt. Für ihn stelle sich die Frage, ob die Aufgaben im Vorfeld von Gefahren aktiv zu werden, nicht besser bei der Polizei anzusiedeln seien und plädierte dabei für die Abschaffung des Verfassungsschutzes in seiner bisherigen Form. Auch die Polizei habe schon umfassende Möglichkeiten. „Die Vorstellung, die Polizei habe weniger Möglichkeiten, Informationen zu speichern, ist nicht mehr zeitgemäß“, so Rusteberg. Auch im Vorfeld von Straftaten könne die Polizei aktiv werden und nutze dies auch.

Besonders eine aus seiner Sicht problematische Praxis des Verfassungsschutzes, das V-Leute-Wesen, führte Rusteberg aus. So sei die V-Leute-Praxis überhaupt erst seit 2015 erstmals rechtlich geregelt und diene dabei allein der Rechtssicherheit für V-Leute-Führer*innen. So wäre dabei nur „die etablierte Behördenpraxis in Gesetzesform gebracht“ worden. Eine Beschränkung dieser Praxis war nicht das Ziel der gesetzlichen Regelung, auch die Grundrechtseinschränkungen der Leute, über die berichtet wird, finde keine Beachtung im Gesetz. Dabei bekommen V-Leute, obwohl sie Angehörige der beobachteten Bestrebungen sind, für ihre Tätigkeit Geld und werden juristisch wie Mitarbeiter*innen des öffentlichen Dienstes behandelt, etwa in Bezug auf Verschwiegenheitserklärungen oder Aussagegenehmigungen. Trotz der erstmaligen gesetzlichen Regelung für V-Leute sei immer noch ein Spielraum für den VS vorhanden. Die Behördenleitung könne etwa bei der Anwerbung von Straftäter*innen als V-Leute Ausnahmen machen und so auch wegen schwerer Körperverletzung oder Geiselnahme verurteilte Personen anwerben. Rusteberg betonte dabei, dass er kein „Praktiker“ sei und nur eine Außenwahrnehmung habe, aber das V-Leute-System, etwa in Bezug auf das gescheiterte NPD-Verbots-Verfahren, hinderlich war, und die NPD auch auf Grundlage der öffentlichen Quellen hätte verboten werden können. Für ihn überdecken bei grundrechtlicher Betrachtung die Kosten den Nutzen.

Mit Blick auf die Kontrollmöglichkeiten der Arbeit des Verfassungsschutzes durch parlamentarische Kontrollkommissionen sprach Rusteberg von einer „Verlegenheitslösung“, da „in aller Regel eh nicht nachvollziehbar“ sei, „was erhoben wurde“ und Mitglieder der Kontrollkommissionen nicht darüber sprechen dürften. Er fragte rhetorisch, was die Kontrollkommissionen denn machen könnten, wenn sie einen Verstoß des Verfassungsschutzes feststellen würden, wenn sie außerhalb ihres Gremiums nicht darüber reden dürften.

Auf Nachfrage einer Parlamentarierin, wie so eine schwierig zu beobachtende, „diverse“ Szene wie die rechte Szene dann zu beobachten sei, erklärte Rusteberg, er würde „im Zweifel auf ‚Exif Recherche‘ nachschauen“, die „mehr als die Sicherheitsbehörden“ wüssten.

Share.

About Author

Comments are closed.