Bericht zur 44. öffentlichen Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag (27.11.2017)

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Am 27.11.2017 fand die letzte öffentliche Sitzung des hessischen Untersuchungsausschuss zur NSU-Mordserie im Wiesbadener Landtag statt. Als Zeugen waren Ismail und Ayse Yozgat geladen, die Eltern des ermordeten Halit Yozgat. Sie wurden von einer Simultandolmetscherin begleitet. Wir dokumentieren im stenographierten Wortlaut zentrale Aussagen, die die beiden vor dem Ausschuss getätigt haben. Ein besonderer Moment der Sitzung bestand zudem darin, dass Ismail Yozgat die Tatortszene im Raum des Ausschusses nachstellte, indem er Stühle und Tische anordnete.

Das einführende Statement des Vaters:

Ismail Yozgat: Ich habe einen einzigen Wunsch: Es ist so, dass mein Sohn Halit ermordet worden ist. Die Holländische Straße wo die Tat begangen wurde sollte umbenannt werden in Halitstraße. Was für uns wichtig ist, mein Sohn hatte seine Schulbücher im Cafè. Er ist ein Gefallener, ein Märtyrer. Das sollte beurkundet werden, das er gefallen ist. Das ist für uns sehr wichtig, sowohl für Deutschland als auch für die Türkei. Der zweite Punkt ist Herr Temme: Er war dort als mein Sohn ermordet wurde. Man hat später eine Ortsbegehung vorgenommen und genauso vorgenommen, wie es Herrn Temme Recht war. Wir beantragen eine neue Ortsbegehung. Es war eine Ortsbegehung, die auf Lügen beruht. Wir beantragen eine Begehung, wo auch ich selbst teilnehme.

Ismail Yozgat arrangiert Stühle und Tische, um den Tatort zu rekonstruieren:

Ismail Yozgat: Mein Sohn Halit sitzt dort, Herr Temme sitzt hier und ist im Internet. Hier genau befindet sich die Tür zum hinteren Raum. Jetzt erzähle ich genau wie ich gekommen bin. Ich komme von hier. Und Halit ist nicht am Tisch. Und ich frage mich, ist er vielleicht in den hinteren Raum gegangen. Aber hier, genau da sind zwei rote Flecken. Ich gehe hierhin. Ich gucke und ich sage mein Sohn Halit, und er liegt hier so, so liegt er dort. Was ist passiert mein Sohn sage ich. Ich habe noch nie in meinem Leben eine Schusswunde gesehen. Ich sehe das er links zwei Schusswunden hat. Seine Augen sind blau. Ich rufe Halit, Halit, was machst Du. Er gibt keine Antwort. Ich lege ihn hin, behutsam. Ich wollte telefonieren, aber konnte nicht. Ich bin raus durch die Tür, es gibt ein türkisches Cafè. Freunde, meinem Halit ist was passiert. 3,4,5 Minuten später haben wir den Tisch weggeräumt, dann kam die Polizei und hat mich rausgenommen.

Temme sitzt hier, er möchte 50 Cent für Internet geben. Er kommt, er möchte zahlen, er sucht nach Halit, er sucht Halit. Wie kann es sein, dass er hier unter dem Tisch Halit nicht sieht. Wenn sie in der Aufnahme das gesehen haben, dann schaut Temme nach rechts. Dann geht er raus und guckt auf die Straße. Dann kommt er zurück, legt das Geld hin, wie kann es sein, dass er die Flecken nicht sieht. Er ist 1,90 groß, wie kann er nicht sehen, dass da ein Mann liegt, ein Mensch auf dem Boden. In dem Moment, als er die 50 Cent hinlegt in dem Moment, dass er das nicht sieht, das verstehe ich nicht.

Zu den polizeilichen Ermittlungen:

Ayse Yozgat: Aber ich als Mutter, ich beschwere mich. Niemand hat mir gesagt, was passiert ist. Ich habe das erst in der Türkei erfahren, als es darum ging meinen Sohn zu bestatten. Die Polizei hat mir nicht gesagt dass er ermordet wurde, dass er erschossen wurde. Niemand hat mir davon erzählt.

Ich habe ihn aufgezogen bis er 21 Jahre alt wurde. Er war mein einziger Sohn und hätte ich auch 10 Söhne er ist mein Leben gewesen, mein ein und alles, mein Kind. Dann bin ich immer wieder befragt worden. Es ist die Rede davon gewesen, dass er Drogen gemommen hätte, dass er irgendwas im Untergrund zu tun gehabt hätte Mafiosi oder Mafia. Für eine Mutter ist es unerträglich sich immer wieder solche Anschuldigungen anhören zu müssen. Psychologisch bin ich aus dem Gleichgewicht gekommen deswegen.

Fünf Jahre lang habe ich mich zuhause eingeschlossen. Ich konnte nicht mehr raus weil ich Angst hatte, dass die Leute mir sagen würden, was hat dein Sohn angestellt? Was steht in den Zeitungen ich habe das und das gelesen. Deswegen konnte ich nicht mehr raus.

Man hat mir keine Betreuung angeboten. Da ich ja nicht so gut Deutsch kann hätten meine Kinder immer dolmetschen müssen. Und ich wusste wie viel Leid sie tragen müssen und ich wollte nicht, dass sie sich auch noch mit meinem Leid auseinandersetzen müssen. Daher habe ich niemandem was erzählt.

Ayse Yozgat: Aufgrund der Ermordung meines Sohnes befand ich mich in einem Zustand, dass der Himmel über mir eingestürzt war, Ich war gefangen zwischen dem Himmel und der Erde und war eingezwängt dazwischen. 2011 als es um die Aufklärung ging und die Täter gefasst wurden: Da war es so, dass es um meinen Sohn ging, dass er frei war von den Anschuldigungen. Für mich hat sich nichts geändert, ich habe meinen Sohn verloren. Aber es ist klar geworden, dass er ein Märtyrer ist. Deswegen sollte die Straße nach ihm benannt werden. Er war noch Schüler und Sohn.

Zur Rolle von Andreas Temme am Tatort:

Ismail Yozgat: Dürfte ich nochmal kurz das Wort erhalten – ja – ich möchte noch etwas zu Herrn Temme sagen. Ich kannte ihn zwei Jahre lang. Er kam jeden Tag und blieb mindestens zwei Stunden. Ein- oder zweimal kam er in Begleitung einer Frau, die noch größer war als er. Ich bot ihm immer Kaffee an und er legte dann zwei Euro hin. Ich kannte ihn sehr gut. Wie kann es sein, dass er an dem Tag nur 15 Minuten blieb und sich erst zwei Wochen später meldet? Wie kann es sein, dass jemand der jeden Tag kommt nicht wieder gesehen war? Diese Fragen treiben mich um und bringen mich um den Schlaf. Wer versucht was zu verstecken? Am Ende komme ich dann immer wieder zu der einen Feststellung. Entweder Temme hat gesehen wer die Täter waren oder er hat sie geführt oder er selber hat meinen Sohn ermordet. Ich finde keine anderen Antworten auf diese Fragen.

Ismail Yozgat hatte einen Brief an den damaligen Innenminister Volker Bouffier geschrieben:

Ismail Yozgat: Ich wollte genau das, was ich auch hier gesagt habe, die Ausweglosigkeit in der ich mich befand, das wollte ich Herrn Bouffier zum Ausdruck bringen. Er hat dem nicht stattgegeben. Ich habe mich so gefühlt, wie jemand der vom Stuhl fällt und nicht aus eigener Kraft aufstehen kann.

Zu der Frage, warum nicht in alle Ermittlungen gleichermaßen ermittelt wurde:

Ismail Yozgat: Jeder der selber Kinder hat wird es bestätigen, denn man weiß ja, wie die eigene Familie ist, man kennt seine Kinder, man weiß was sie tun und was nicht. Mein Sohn hat niemandem etwas zu Leide kommen lassen. In Kassel und Umgebung hatte er niemandem etwas zugefügt, wir hatten nie etwas vor Gericht oder mit der Polizei zu tun, wir hatten keine Probleme mit den Nachbarn. Man weiß ja, ob der Sohn in Machenschaften verstrickt war. Er hatte keinerlei Probleme, geschweige denn irgendwas mit Drogen, egal ob 2006 oder vorher. Wir hatten nie was mit Haschisch oder mit Heroin zu tun. Wenn sie das alles ausschließen können, bleibt ja nichts anderes übrig. Für mich war klar, dass müssen ausländerfeindliche Motive gewesen sein. Ich stehe auch heute nochmal hinter diesen Worten.

Zur Aktenvernichtung im Verfassungsschutz:

Ismail Yozgat: Ja, und es kommt noch hinzu, dass die Akten vernichtet worden sind. Das setzt mir sehr zu, dass diese Akten vernichtet wurden.

Zu der Frage, welchen Zweck Yozgats verfolgten als sie im Mai 2006 in Kassel mit anderen Hinterbliebenen eine Demonstration organisierten:

Ismail Yozgat: Mein Sohn war ja gestorben. Uns ging es darum, dass keine anderen Kinder umgebracht werden sollten. Das war der einzige Sinn und Zweck. Herr Bertram Hilgen war maßgeblich beteiligt, wir haben ihn unterstützt. Ich sage, gut, dass wir das gemacht haben, denn danach hat dieser Terror sein Ende gefunden.

Ayse Yozgat: Bei den Opfern zuvor war es ja so, dass die übriggebliebenen Kinder waren, es waren ja die Väter die umgebracht worden sind. Wir waren ja die Eltern selber, wir wussten, wir können die Stimme erheben. Wir wollten der Welt zeigen, dass wir eine Stimme haben, dass keine Väter sterben müssen, dass keine Kinder mehr sterben müssen. Es geht nicht darum wer welchen Glauben hat, es geht um Menschen. Wir werden uns auch weiterhin einsetzen, solange unsere Gesundheit das mitmacht, wir werden uns weiterhin dafür einsetzen und unsere Stimme erheben.

Zur Frage, ob nicht die Umbenennung eines Platzes in Kassel in Halit-Platz nicht bereits für das Gedenken ausreichend sei:

Ismail Yozgat: Dazu möchte ich folgendes sagen: Unser Sohn ist ermordet worden und er ist dort umgebracht worden, wo er auf die Welt kam. Er wurde in dem selben Haus ermordet, wo er geboren wurde. Wir haben nur einen Wunsch geäußert, dass die Straße wo er geboren wurde, in Halitstraße umbenannt wurde. Das war unser Wunsch. Der Platz wurde umbenannt, ohne dass wir das wollten. Man hat nur das gemacht, was man machen wollte. Das ist unser einziger Wunsch, diese Straße umzubenennen. Im Gericht hat der Anwalt von Zschäpe gesagt: Was wollt ihr noch? Der deutsche Staat hat Euch 860.000 Euro gegeben. Wir haben aber keinen einzigen Cent angenommen. Aber sie haben nur das gemacht, was sie machen wollten, nicht das was wir wollten.

Ayse Yozgat: Halit ist in der Holländischen Straße 82 geboren und dort gestorben.

Zu den Überwachungsmaßnahmen gegen die Familie:

Ayse Yozgat: Wir haben nach zwei Jahren Polizisten gefragt „werden wir abgehört?“ und die Polizisten sagten Ja. Es war so, dass ich auch als mein Mann nach Hause kam, dass ich Ihn dann darum bat, ob er mit mir rausging, da ich nicht alleine rausgehen konnte. Da fiel mir immer auf, dass ein Wagen uns verfolgte, wir immer verfolgt wurden. Das war sehr schwer. Sie waren immer hinter uns her. Wir sind nach Österreich/Holland/Türkei gefahren, sie kamen uns immer hinterher.

Das war 2006 bis 2011, das wir immer wieder verfolgt wurden. Wir haben Verwandtschaft in den Niederlanden, wenn wir dort bei Familienfesten waren, hat die Polizei uns dorthin verfolgt. Weil die Polizei dachte wir würden mit Drogen handeln.

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