Am 19.02.2015 fand im hessischen Landtag in Wiesbaden die erste öffentliche Sitzung des hessischen NSU-Untersuchungsausschuss statt.
Zu dieser Sitzung waren drei Sachverständige geladen, die zu den Begriffen „Rechtsextreme Szene“ und „Rechtsextremismus“ referieren sollten.
Von den geladenen Sachverständigen musste erwartet werden, dass sie spezifische Erkenntnisse zur Geschichte der rechten Szene und der gesellschaftlichen Situation Anfang der 1990er Jahre in Deutschland liefern, aus denen heraus die Entstehung des Thüringischen Heimatschutzes und des NSU erklärt werden können. Die historische Situation ist für das Verständnis des Begriff „Rechtsextremismus“ und für die NSU-Mordserie essenziell, weil sich die rechte Szene, ihr Selbstverständnis und ihre politischen Strategien in dieser Zeit stark verändert haben.
Vorab noch eine Bemerkung: Neueste Erkenntnisse der Anwält*innen von Halit Yozgat legen nahe, dass Andreas Temme und das Landesamt für Verfassungsschutz möglicherweise vor der Begehung des Mordes bestimmte Hinweise auf die Tat hatten.
Hierzu gab es in der WELT einen ausführlichen Bericht.
Die folgende Zusammenfassung der Anhörungen ist nicht vollständig und kann nicht alle aufgeworfenen Fragen behandeln, sondern konzentriert sich auf die unseres Erachtens wesentlichen Erkenntnisse.
Anhörung Rudolf van Hüllen
Der erste geladene Sachverständige war Rudolf van Hüllen, ehemaliger Leiter der Abteilung „Linksextremismus“ im Bundesamt für Verfassungsschutz. Der Vortrag von Herrn van Hüllen lieferte keine für den Untersuchungsauftrag des Ausschusses relevanten Erkenntnisse. Die spezifische Situation der rechten Szene Anfang der 90er Jahre und ihre ideologische Neuausrichtung blieb ebenso unbeleuchtet, wie konkrete Erklärungen zu der Herausbildung des NSU. Auch zu der (bundes)länderübergreifenden und internationalen Vernetzung der Neonazis sowie zu dem Verhältnis zwischen rechten Parteien, freien Kameradschaften, rechter Musikszene und den Theoretikern der sogenannten „Neuen Rechten“ gab es keine differenzierte Analyse. Erstaunlich war van Hüllens Behauptung, dass das NSU-Umfeld keine Kenntnis von den schweren Straftaten gehabt habe, sonst wären Erkenntnisse viel früher durchgesickert.
Anhörung Hajo Funke
Als zweiter Sachverständiger war Hajo Funke, emeritierter Professur von der FU Berlin, geladen. Herr Funke wies am Anfang seines Vortrags darauf hin, dass die migrantischen Communities sehr früh erkannt hatten, dass es sich bei der Mordserie um rassistische Taten von Neonazis handeln musste und führte die Demonstration in Kassel direkt nach dem Mord an Halit Yozgat an, auf der seine Ermordung in eine Linie mit den anderen Taten gesetzt wurde. Laut Funke stellt der Rechtsextremismus kein reines Ost-Phänomen dar. Vielmehr sind rechte Kader aus Westdeutschland nach der Wende bewusst nach Ostdeutschland gegangen, um dort neue rechte Strukturen aufzubauen. Die Strategie zielte auf eine „Revolution der Straße“ hin und bewirkte eine Zunahme der Gewaltbereitschaft der rechten Szene. Laut Funke war der NSU das Produkt einer spezifischen gesellschaftlichen Situation Anfang der 90er Jahre, die sich durch die Wende, den Aufbruch alter Strukturen sowie die mangelnde Abfederung durch das soziale Umfeld auszeichnete.
Funke beschäftigte sich in seinem Vortrag auch mit konkreten rechten Strukturen, die den NSU gestützt haben. Dabei hob er das Blood-and-Honour-Netzwerk und die Hammerskins hervor. Beide Gruppierungen seien stark international vernetzt gewesen und hätten über terrorismusfähige Strukturen verfügt. Eine sehr wichtige Figur aus der Hammerskin und Blood-and-Honour-Szene sei Thomas Gerlach, der auch schon im NSU-Prozess geladen war. Für den hessischen Untersuchungsausschuss ist interessant, dass Gerlach im Forum des Aktionsbüros Rhein-Neckar war und Kontakte zu wichtigen Neonazis in Hessen gehabt hatte. Darunter befand sich mit Mirko Hesse auch ein V-Mann des Bundesamt für Verfassungsschutz. Weitere wichtige rechte Strukturen in Hessen seien laut Funke die Freien Kräfte Schwalm-Eder, die Arische Bruderschaft, Sturm 18 Cassel und lokale Ableger von Blood-and-Honour.
Funke betonte, dass die Recherchearbeit antifaschistischer Gruppen wie a.i.d.a aus München so gut und wichtig für seine Arbeit sei, dass er daraus immer neue Erkenntnisse ziehen könnte. Im Hinblick auf den Verfassungsschutz stellte Funke die Frage, wie sich der Verfassungsschutz so verselbstständigen konnte, dass die Arbeit von Polizeibehörden behindert und Erkenntnisse über die rechte Szene nicht richtig genutzt wurden.
Anhörung Andrea Röpke
Als letzte Sachverständige war die freie Journalistin Andrea Röpke geladen. Sie betonte in ihrem Vortrag, der einen profunden Abriss rechter Gewalttaten seit den 1980er Jahren beinhaltete, dass rechter Terror und Gewaltakte keine Ausnahme, sondern diese Aktionen fester Bestandteil neonazistischer Gruppen waren. Sie erläuterte, dass die Bildung von einzelnen Zellen und Banküberfälle keine Erfindung des NSU sind, sondern seit 1979 Programm der rechten Szene seien. Die rechte Szene lasse sich nicht danach aufteilen, dass es einerseits militante und andererseits nicht-militante Nazis gebe. Vielmehr baue der rechte Terror auf eine Akzeptanz innerhalb der rechten Szene auf. Röpke hielt es für naheliegend, dass der NSU seine Taten nicht nach außen bekannt gegeben habe. Rechter Terror wirke vor allem nach innen, in die rechte Szene hinein, um ein Zeichen zu setzen und zu Nachahmungen zu mobilisieren. Es habe sich eine Kultur des Schweigens nach außen etabliert, nach innen werde aber mit Taten geprahlt und die Täter*innen heroisiert.
Röpke äußerte sich auch zu Vorbildern des NSU. Darunter zählte sie Manfred Roeder, der eine Kultfigur der rechten Szene sei. Weitere politische Vorbilder seien der V-Mann und Mitbegründer des Thüringer Heimatschutz Tino Brandt, Ralf Wohlleben (der über Thüringen hinaus militante Strukturen aufgebaut hat, darunter das Aktionsbüro Rhein-Neckar in Hessen) und Thomas Starke, einer der führenden Kader von Blood and Honour und Informant des LKA. Relevant für den Kasseler Mord ist zudem, dass Starke den Kontakt von Mundlos zu der rechten Band Oidoxie aus Dortmund hergestellt hat. Hinsichtlich eines Oidoxie-Konzerts im Jahre 2006, kurz vor dem Mord an Halit Yozgat, wird vermutet, dass Böhnhardt und Mundlos bei diesem anwesend waren. Nach Röpke sei es kein Zufall gewesen, dass es einen Mord in Kassel gab. Der NSU hätte seine Taten vor allem in westdeutschen Städten mit starken Neonazi-Szenen verübt. Auch die Kooperation zwischen Dortmunder und Kasseler Nazis sei hierfür relevant gewesen.
Röpke sagte zudem, dass Personen aus dem NSU-Umfeld, wie Andre Eminger und Holger Gerlach, die auch in München angeklagt sind, bis heute den Kontakt zu Neonazis aufrecht erhalten, beispielsweise wohnte Eminger in München in einer bekannten Neonazi-WG.
Besonders interessant für die Aufklärung des Mordes in Kassel waren die Ausführungen von Röpke zu Andreas Temme, demjenigen Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Hessen, der am Tatort zugegen war. Röpke geht davon aus, dass Temme in seinen bisherigen Aussagen die Unwahrheit gesagt habe. Temme führte beim LfV Hessen Benjamin Gärtner (V-Mann Gemüse) als einzige Neonazi-Quelle, der zugleich der Halbbruder des hessischen Blood-and-Honour Kaders Christian W. ist. Offiziell habe Temme Benjamin Gärtner als Quelle über die rechte Deutsche Partei geführt, die nach Röpke in Hessen aber keinerlei Rolle gespielt habe. Röpke zweifelte deshalb die Glaubwürdigkeit von Temme an und führte aus, dass Benjamin Gärtner für das LfV vielmehr im Hinblick auf seine Kontakte in die militante Nazi-Szene relevant gewesen sei. Benjamin Gärtner hat behauptet er sei im Besitz einer DVD über das Oidoxie-Konzert in Kassel im Jahr 2006. Die Sicherheitsbehörden hätten aber in dieser Sache nicht weiter ermittelt, wie Röpke kritisierte. Insgesamt zweifelte sie Temmes Glaubwürdigkeit an, weil dieser beispielsweise behauptete relevante Neonazi-Gruppen nur aus der Presse oder gar nicht zu kennen, obwohl er sich seit seinem 15. Lebensjahr, privat und beruflich, mit der NS-Ideologie auseinandersetzte.
Röpke ging auch auf die Kooperation zwischen der rechten Szene in Kassel und der organisierten Kriminalität, hier insbesondere den Hells Angels, ein. Es gebe, nicht nur in Kassel, viele Verbindungen, da die Szenen sich gegenseitig nutzen und unterstützen würden. Besonders pikant ist hierbei, dass Andreas Temme mit dem Hells Angels Präsident aus Kassel befreundet sei und es aufgrund der Weitergabe interner Informationen von Temme ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren im Jahr 2004 gegen ihn gab.
Zuletzt betonte Röpke, dass sie das V-Leute System für nicht hilfreich bei der Aufklärung über die Neonazi-Szene halte. Vielmehr gelte es Publikationen rechter Gruppierungen zu lesen, zu analysieren und die dort formulierten Strategien Ernst zu nehmen. Man müsse erkennen, dass es eine starke Vernetzung in der rechten Szene gebe und viele davon nicht von den Sicherheitsbehörden erkannt werden. Sie führte dabei die Arische Bruderschaft mit ihrem Anführer Thorsten Heise an, die nicht im Verfassungsschutzbericht gelistet ist.
Einige offene Fragen für den Untersuchungsausschuss:
Unserer Einschätzung nach hat bereits die erste Sachverständigen-Anhörung viele offene Fragen thematisiert, denen sich der Untersuchungsausschuss unbedingt weiter widmen muss, um den Kasseler Mord aufzuklären. Aus der Vielzahl offener Fragen, heben wir insbesondere hervor:
– Wir unterstützen die These, dass die rechte Szene sehr stark untereinander und auch in andere Szenen hinein vernetzt ist. Die konkreten Kooperationen in Hessen sind aber weiterhin an einigen Stellen nicht aufgeklärt. Für Kassel ist insbesondere relevant, wie stark das dortige Blood-and-Honour Netzwerk mit anderen Neonazis in Deutschland, vor allem nach Dortmund, zusammengearbeitet hat. Das Oidoxie Konzert 2006 ist unseres Erachtens der neuralgische Punkt, der diese Kooperation, auch mit dem NSU, aufzeigen könnte.
– Außerdem muss geklärt werden, inwiefern Benjamin Gärtner Einblick in die rechte Szene hatte und was er über militante Strukturen wusste. Entscheidend ist herauszufinden, welche dieser Informationen an Andreas Temme gelangt sind.
– Auch die Verbindung der Nazi-Szene zur organisierten Kriminalität ist ein Feld, dass der Untersuchungsausschuss beleuchten muss. Welche Verbindungen gab es zwischen den Hells Angels und der Nazi-Szene? Hatte Andreas Temme über seine Kontakte zu den Hells Angels möglicherweise Informationen, die für die Ergreifung des NSU relevant waren?
Medienspiegel zur ersten Sitzung:
Taz, 19.02.2015, Knatsch vor Raum 301
http://www.taz.de/!155040/
Taz, 19.02.2015, Ein Stich ins Herz der Opfer
http://www.taz.de/!154973/
Taz, 19.02.2015, Es gibt viele offene Fragen
http://www.taz.de/!154964/
HR, 19.02.2015; Kassel war kein Zufall
http://www.hr-online.de/website/rubriken/nachrichten/indexhessen34938.jsp?rubrik=36086&key=standard_document_54523161
FR, 20.02.2015, Wir hielten Neonazis für zu blöd
http://www.fr-online.de/landespolitik/nsu-ausschuss–wir-hielten-neonazis-fuer-zu-bloed-,23887878,29907292.html
FR, 20.02.2015, Die Mörder und ihr Netzwerk
http://www.fr-online.de/landespolitik/nsu-nsu–die-moerder-und-ihr-netzwerk,23887878,29917826.html
FAZ, 20.02.2015, Sachverständige: NSU hatte Helfer
http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/hessen/hessischer-u-ausschuss-sachverstaendige-nsu-hatte-helfer-13438801.html
FNP, 20.02.2015, Viele Fragen offen
http://www.fnp.de/rhein-main/NSU-Ausschuss-Viele-Fragen-offen;art801,1272713