In der ersten Sitzung des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses nach der Sommerpause wurden am 09.09.2016 zwei ehemalige Präsidenten des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfVH), Roland Desch und Dr. Alexander Eisvogel, verhört. Als dritter Zeuge wurde ein weiterer Mitarbeiter des LfVH, ein ehemaliger Kollege von Andreas Temme, befragt. Obwohl die Sitzung gut zehn Stunden dauerte, brachte sie keine bahnbrechenden Erkenntnisse zu Tage. Der Vorsitzende des Untersuchungsausschusses Hartmut Honka (CDU) bestätigte erneut seine mangelnde Sensibilität gegenüber den Opfern des NSU-Terrors, indem er es verpasste die Sitzung mit gedenkenden Worten an das erste Todesopfer der Mordserie zu erinnern. Der aus Hessen stammende Enver Şimşek wurde vor genau 16 Jahren in Nürnberg niedergeschossen und erlag zwei Tage später seinen schweren Verletzungen. Holger Bellino (ebenfalls CDU) holte dies nach, als das Fragerecht an ihn ging.
Befragung Roland Desch
Als erster Zeuge wurde Roland Desch, der von 2010 bis 2015 Präsident des LfVH war, angehört. Der ehemalige Kriminalkommissar fungierte zudem von Januar bis Mai 2006 – also zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat – als kommissarischer Leiter des Landespolizeipräsidiums. Desch begann seine Befragung mit einem Eingangsstatement, indem er grob seinen Werdegang als Mordermittler darlegte. Er beteuerte, es sei immer das Ziel einen Mordfall aufzuklären und sehr schmerzlich und bedauerlich, wenn dies nicht gelinge. Insgesamt sei er drei Mal mit der Mordserie befasst gewesen: Das erste Mal im April 2006 in seiner Zeit als kommissarischer Inspekteur im Landespolizeipräsidium, das zweite Mal im August 2011 als der SPIEGEL über die Mordserie berichtete – da war Desch bereits Präsident des LfVH – und das dritte Mal nach Auffliegen des NSU im November 2011.
Desch sprach von den zum Teil erschreckenden Entwicklungen des Rechtsextremismus in den 1990er Jahren. Er nannte als Schlagworte die Gewalttaten von Rostock, Mölln und Solingen. Er legte dar, wie die Polizei daraufhin ihre Maßnahmen verschärft habe und sich ab Mitte der 1990er verstärkt mit der Frage der Existenz einer ‘Braunen Armee Fraktion’ auseinandergesetzt wurde. Die Polizei habe die Probleme des Rechtsextremismus nicht verkannt, sie sei hoch sensibilisiert gewesen, so seine Einschätzung. Die Verschärfung der Maßnahmen hätten dann auch dazu geführt, dass nach einem Hochstand der Zahlen (an Veranstaltungen etc.) von 1999/2000 diese bis 2002 halbiert werden konnten. In Bezug auf rechtsextreme Straftaten sei Hessen immer unter den Schlusslichtern gewesen.
In Bezug auf seine Funktion im Landespolizeipräsidium im April 2006 gab er an, er habe am 21.04. vom Leiter der Sonderkommission, die im Mordfall Yozgat ermittelte, die Information bekommen, dass der noch nicht identifizierte „Zeuge“ Temme ermittelt wurde. Desch legte großen Wert auf diese Betitelung: Temme sei nicht als Tatverdächtiger, sondern als Zeuge gesucht worden. Desch behauptete zudem, es habe gegen Temme nie einen dringenden Tatverdacht gegeben. Dies habe auch Auswirkungen darauf gehabt, ob die Quellen von Temme offengelegt werden sollen. Desch betonte, dass im Jahr 2006, dem Jahr des Mordes an Halit Yozgat, mögliche terroristische Bedrohungen rund um die Weltmeisterschaft in Deutschland relevant gewesen seien.
Die bundesweite Ceska-Mordserie sei laut Desch kein großes Thema beim Austausch zwischen den Behördenleitern gewesen. Dafür habe der Fall der ermordeten Polizistin Kiesewetter aus Heilbronn Aufmerksamkeit erregt.
Zu möglichen Verbindungen zwischen Hessen und dem NSU wurde im Ausschuss lediglich durch einen Aktenvorhalt der Abgeordneten Nancy Faeser (SPD) bekannt, dass die drei NSU-Mitglieder vor 1998 an einem Aufmarsch Bad Hersfeld teilgenommen haben sollen. Desch konnte darüber hinaus keine weiteren Angaben zu möglichen Unterstützern in Hessen machen.
Erstaunlich waren Deschs Aussagen zu Benjamin Gärtner. Während der letzten Ausschuss-Sitzungen hatten verschiedene Zeugen angegeben, dass Gärtner lediglich eine Gewährsperson gewesen sei. Nun sagte Desch deutlich, Gärtner sei V-Mann gewesen. Deswegen habe er auch für den NSU-Prozess einen Rechtsbeistand erhalten, damit er nicht unwissentlich strafrechtlich relevante Geheimnisse verraten konnte. Über die genaue Aufgabenzuweisung und Stellung von Gärtner im LfV Hessen herrscht insoweit weiterhin Unklarheit. Der Linkspartei-Abgeordnete Herrmann Schaus befragte Desch sodann über die Rolle des Anwalts von Gärtner. Dieser sei auch der Anwalt des ehemaligen VS-Präsidenten Holger Pfahls gewesen, der zudem in dubiose Insolvenzgeschäfte verwickelt gewesen sei.
Unklarheit besteht weiterhin über das Treffen von Dr. Iris Pilling mit Temme auf einer Autobahnraststätte. Pilling gab im Ausschuss an, das Treffen sei rein privater Natur gewesen. Desch sagte jedoch im Ausschuss, dass Pilling während des laufenden Strafverfahrens auf Temme einwirken wollte, sodass er die Wahrheit sagt – was für einen dienstlichen Vorgang spricht. Bei einer späteren Nachfrage zu diesem Umstand, wollte sich Desch dann nicht mehr eindeutig festlegen, ob es ein privater oder dienstlicher Vorgang gewesen sei.
Befragung Eisvogel
Der Zeuge Alexander Eisvogel, der zunächst im BfV, dann von 2006 bis 2010 als Präsident des LfV in Hessen und dann wieder im BfV arbeitete, eröffnete seine Befragung mit einem sehr langen Statement über die juristischen Aspekte der Aussageverweigerung von Temmes Quellen. Eisvogel war 2006 in der Abteilung Islamismus des BfV tätig und sollte ein Gutachten über fünf Quellen von Temme, insbesondere ihre bundespolitische Relevanz erstellen. Er betonte, dass er sich nur mit den islamistischen Quellen und nicht mit der rechten Quelle Gärtner in dem Gutachten beschäftigt habe. Zudem wies er die öffentlichen Vorwürfe zurück, er habe ein Gefälligkeitsgutachten für die Landesregierung Hessen erstellt, um so Präsident des LfV zu werden. In seinem Gutachten habe er vielmehr dargelegt, dass die fünf islamistischen Quellen im Vorfeld der WM wichtig gewesen seien und ihre Offenlegung für sie eine Gefahr dargestellt hätte. Jedoch machte er deutlich, dass sein Gutachten nicht dahingehend verstanden werden darf, er habe explizit die Verweigerung der Befragung nahegelegt. Sein Gutachten habe lediglich den Zweck erfüllt, Argumente für den juristischen Abwägungsvorgang des Staatswohls zu entwickeln. Die Entscheidung sei jedoch Sache der Landesregierung, speziell des Innenministers gewesen. Er zeigte sich sogar überrascht, dass ein Landesamt das BfV in dieser Sache überhaupt anfragen würde.
In der anschließenden Befragung behauptete Eisvogel, die Staatsanwaltschaft habe das Strafermittlungsinteresse bezüglich der Quellen nicht hoch eingeschätzt. Damit sei ein wichtiger Aspekt des Abwägungsvorgangs berührt gewesen.
Zur Frage warum das Disziplinarverfahren gegen Temme eingestellt wurde, sagte Eisvogel, Temme sei zu diesem Zeitpunkt bereits auf Abruf zum Regierungspräsidium gewesen. Er habe deswegen keinen Sinn mehr darin gesehen, das Verfahren fortzuführen, da ohnehin der Dienstherr wechselte.
Am Ende sagte Eisvogel, dass die Ämter in Bezug auf den Rechtsterrorismus zu ziellos gewesen seien. Viele hätten Mist gebaut. Man habe Blood&Honour, leaderless resistanzce-Konzepte u.a. gekannt, daraufhin aber keine genaueren Recherchen angestellt.
Befragung Michael H.
Mit Michael H. wurde ein Kollege und Freund von Andreas Temme im Ausschuss befragt. Er habe immer mal wieder mit Temme zusammen gearbeitet. Auf die Frage, ob er glaube was Temme wahrgenommen habe, sagte H., dass er Temme glaube, aber der zeitliche Ablauf in dem Cafè unklar sei.
Parteipolitische Konflikte
Während der Sitzung des Ausschusses zeigte sich erneut ein kurioses parteipolitisches Geplänkel. Der CDU-Abgeordnete Holger Bellino brachte ein Schreiben in den Ausschuss ein, dass die Unterrichtung der Parlamentarischen Kontrollkommission des Landtags von 2006 über die Verweigerung der Aussagegenehmigung der V-Leute belegen sollte. Zu diesem Zeitpunkt war der SPD-Abgeordnete Rudolph Vorsitzender der Kommission. Die CDU verschickte während der Sitzung eine Pressemitteilung, in der sie der SPD und speziell Rudolph vorwarf, sich als „großen Aufklärer“ zu inszenieren, dabei aber selbst über die Vorgänge 2006 informiert gewesen sei und nichts unternommen habe. Die SPD reagierte empört und veranlasste ein rund 30minütige Unterbrechung der Sitzung und Fortführung in geheimer Runde.