„Ihr zählt die Monate, aber ich die Tage“ – UNA Hanau, 2. Sitzung, 17.12.21

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Am 17. Dezember 2021 fand die zweite öffentliche Sitzung des Untersuchungsausschusses zum rassistischen Anschlag in Hanau im hessischen Landtag statt. Als Zeug*innen waren Emiş Gürbüz, Niculescu Păun und Saida Hashemi geladen. Alle drei verloren Angehörige bei dem rassistischen Anschlag vom 19. Februar.

Auch zur zweiten öffentlichen Sitzung hielt die Initiative 19. Februar Hanau gemeinsam mit antirassistischen und antifaschistischen Gruppen eine Mahnwache vor dem Besucher*inneneingang des hessischen Landtags ab. Drinnen begann ab 9 Uhr die zweite öffentliche Sitzung, in der erneut Angehörige der Opfer des Anschlags das Wort hatten. Nach einigen kurzen verfahrenstechnischen Hinweisen des Ausschussvorsitzenden Marius Weiß begann die erste Anhörung.

Im Folgenden geben wir die Eingangsstatements der Angehörigen möglichst ausführlich, basierend auf unserer Mitschrift wieder, müssen aber darauf hinweisen, dass es kein exaktes Wortprotokoll ist und es kleinere Abweichungen geben kann.

Wir brauchen keinen Dank, wir brauchen einfach ein Ende der rassistischen Gewalt“ – Anhörung von Emiş Gürbüz

Als erste Zeugin sagte Emiş Gürbüz, Mutter von Sedat Gürbüz aus. Ihr Sohn war Eigentümer der Shisha-Bar „Midnight“ am Hanauer Heumarkt, dem ersten Tatort und wurde dort ermordet. Im Anschluss fuhr der Täter nach Kesselstadt und mordete dort weiter. Zur Anhörung begleitet wurde Frau Gürbüz von ihre Rechtsanwältin Başay-Yıldız.

Ich bin die Mutter von Sedat, heute ist der 667 Tag ohne Sedat. Ihr zählt die Monate, aber ich die Tage. Mein Kind Sedat ist in Langen geboren und in Dietzenbach aufgewachsen. Ich liebe Dietzenbach und ich bin ein Dietzenbacher, meine Heimat ist hier, das hat er immer gesagt. Sedat kann man nicht erzählen oder erklären, man muss ihn erlebt haben. Ich habe auch später so vieles, was er getan hat, erzählt bekommen. Er hat so viel Gutes getan, aber nicht drüber geredet. Er hat ein großes Herz gehabt. Er hat immer gesagt, wir sind alle seine Brüder, deshalb war er so beliebt. Sedat hatte Träume gehabt, hatte Pläne gehabt, wollte heiraten, Familie gründen, Kinder bekommen. Er hat Kinder geliebt. Der Mörder hat das nicht zugelassen. Ich habe Sedats Kindersachen aufbewahrt, für seine Kinder. In seinem Leben gab es seine Mutter, seine Freundin und seine Oma. Sedat ist mein erstgeborenes Kind. Er ist ein intelligentes Kind. Er wusste was ich denke, bevor ich es gesagt habe. Sedat hat das Leben geliebt, er wollte leben. Wenn Sedat die Treppe hochkam, dann wusste jeder im Haus, Sedat ist da. Sedat war ein stabiles Kind, er ging in kräftigen Schritten die Treppe hoch. Ich kann es immer noch nicht glauben. Ich gehe jeden Tag zum Friedhof. Ich rede mit Sedat: Wach auf, ich vermisse dich, dein Gesicht, dein Lachen, dein Schatten, deine Stimme, alles. Wach doch nur kurz auf und komm zu mir. Heute scheint die Sonne, heute regnet es, Sedat. Heute schneit es, du liebst den Schnee. Wo bist du Sedat? Heute ist das passiert, heute das. Ich erzähle ihm immer auf dem Friedhof. Der Friedhof ist unsere Wohnung geworden. Sedat war ein Sonnenschein, unsere Lebensfreude, für Eltern sind die Kinder ein Grund zum Leben. Du gehst einkaufen aber als erstes kaufst du für deine Kinder. Sedat war ein Mensch, kein Unmensch wie sein Mörder. Wenn der Mörder ihn gekannt hätte, hätte er den Sedat niemals ermorden können.

19.02.2020, ich hasse dieses Datum. In dieser Nacht – am 19. Februar 2020 – es war glaube ich nach 22 Uhr, Sezer, mein Sohn kam ins Zimmer, mein Mann muss wegen der Arbeit früh aufstehen. Sezer ist aufgeregt in unser Schlafzimmer gerannt, er sagt in Sedats Laden ist etwas passiert, es gibt 4 Tote. Mein Mann hat Sedat angerufen, aber er ist nicht rangegangen. Ich weiß nicht, wie wir nach Hanau gekommen sind, es ging alles schnell. Ich kann mich nicht erinnern. Alles war abgesperrt. Drei bis vier Krankenwagen, überall Polizei, so viele Menschen. Auch viele Dietzenbacher waren auf der Straße. So viele Freunde von Sedat, aber kein Sedat. Ich habe gedacht, weil er der Besitzer ist, muss er vielleicht mit der Polizei reden.

Er kommt nicht. Wir haben gewartet, gewartet, gewartet, wir haben nicht verstanden. Keiner hat irgendwelche Informationen gegeben. Sie haben uns dann in das Hotel gegenüber reingelassen. Die hätten längst schließen müssen, aber der Besitzer hat gesagt, lass die Leute da sitzen, das ist Sedats Familie. Die kannten Sedat sehr gut und liebten Sedat. Auf der Straße, alle haben ihn gekannt. Ich habe immer noch gewartet. dass Sedat endlich sein Gespräch mit der Polizei beendet. Ich habe nicht verstanden, dass er weg ist. Wir waren im Schock. Um sechs oder halb sieben sind wir nach Hause gegangen, weil wir immer noch keine Informationen bekommen haben. Sie haben gesagt, wartet nicht.

Du bist eine Wand, betäubt, bist da, aber hörst nicht, merkst nichts, guckst, aber siehst nicht, du bist nicht mehr da. Der Mörder hat nicht nur mein Kind kaltblütig ermordet, er hat auch uns ermordet. Wir sind lebendige Leichen. Er hat auch unsere Familie zerstört. Wir waren eine Familie, jetzt sind wir es nicht mehr. Mein anderer Sohn geht nicht aus dem Zimmer raus, er ist in sich gekehrt. Er hatte nur einen Bruder gehabt in diesem Leben und der ist ermordet worden.

Der Mörder hat unsere Gesundheit zerstört. Mein Mann kann nicht mehr arbeiten, nach 31 Jahren in der gleichen Arbeitsstelle war er zum ersten Mal in seinem Leben so lange krankgeschrieben. Ganz früher waren die Krankmeldungen gelbe Zettel, mein Mann wusste nicht, dass die Zettel jetzt rosa sind. Er war so lange vor dem 19.02.2020 nicht mehr krank gewesen. Jetzt kann er nicht mehr arbeiten. Er kann sich nicht konzentrieren.

Gegen zehn oder halb elf am nächsten Tag, nach dem rassistischen Anschlag sind drei oder vier Polizisten zu uns nach Hause gekommen, haben im Kinderzimmer mit Sezer und unseren Bekannten gesprochen. Sie haben wohl gesagt, Sedat wurde ermordet. Sie habe eine Tüte gebracht [die Zeugin hält eine Klarsichtfolientüte hoch, Anm. d. A.], von Sedat ist das hier übriggeblieben. Sie haben das gebracht und dann sind sie gegangen. Das ist sein Telefon. Bis jetzt ist das nicht einmal ausgegangen. Ich habe es immer geladen. Die 03 auf der Tüte habe ich nicht verstanden. Später habe ich erfahren, was die 03 war. O3 war mein Kind, der dritte Ermordete. Aber das war erst viel, viel später. 2 Tage vor der Tat hatte Sedat eingekauft. Der Mörder hat nicht zugelassen, dass er diese Sachen anziehen konnte. Diese Kleidungsstücke, die er noch nicht einmal getragen hat, die er tragen wollte. Die Etiketten sind noch drauf. Die Schuhe, die er gekauft hat, hat er ein paar Stunden gehabt.

Von den anderen ermordeten Kindern wusste ich gar nichts. Das habe ich später erfahren. Am Montag haben wir den Sedat, die Leiche dann, nach so vielen Tagen dann gesehen. Ich habe nur sein Gesicht gesehen. Sein Gesicht war sehr schön. Mit roten Backen. Das war in Darmstadt und nur kurz. Es ist furchtbar schmerzhaft. Wir hatten keine Chance ihn noch einmal zu sehen und uns von ihm zu verabschieden. Weil er lange in der Rechtsmedizin war. Wir wurden nicht wie trauernde Eltern behandelt. Es ist furchtbar schmerzhaft, dass wir nicht die Chance hatten, ihn noch einmal länger zu sehen und uns von ihm zu verabschieden, so wie es menschenwürdig ist. Danach wurde er in Hanau auf den Marktplatz gebracht. Es gab ein Abschiedsgebet mit vielen Menschen, die daran teilgenommen haben.

Am Dienstag wurde Sedat in Dietzenbach beerdigt. Es hat geregnet am Tag der Beerdigung. Der Himmel hat geweint, die Erde hat geweint, weil mein Kind unschuldig war und dann kam die Sonne raus wie im Sommer. Es war noch Winter, aber die Sonne kam raus für mein Kind, der unschuldig war und so sinnlos ermordet wurde. Normalerweise sollte man keine Obduktion machen. Es war doch alles klar bei Sedat. Dieser Junge hat einen Kopfschuss bekommen und in dem Moment war er weg. Können Sie sich das Leid vorstellen, das wir Eltern erlebt haben? Uns wurde nicht gesagt, was mit unseren Kindern geschieht. Sie haben unsere ermordeten Kinder obduziert, zerschnitten, warum? Die Schussverletzungen waren doch klar. Niemand hat uns um die Erlaubnis gefragt. Mein Kind sollte nicht zerschnitten werden, er sollte so bleiben, wie er war. Wer gibt ihnen das Recht? Meine Anwältin hat mir gesagt, die sagen, dass die meinen Sohn wohl gefragt hätten wegen der Obduktion. Ich habe ihn dann gefragt. Er erinnert sich nicht. Mein Sohn ist 28 Jahre alt. Er war sowieso weg. Er konnte nicht mehr denken, er war im Schock, wusste nicht, worum es geht. Sie können doch nicht mein Kind fragen, sie müssen mich fragen. Ich habe dieses Kind zur Welt gebracht. Sedat ist mein eigenes Blut, meine eigenen Knochen. Ich bin seine Mutter. Sedat ist am Hinterkopf getroffen worden, im Sitzen, fiel zur Seite und blieb da fast einen ganzen Tag genauso liegen. Es kommt mir so unmenschlich vor, dass sie ihn so gelassen haben. Wenn jemand zum Tode verurteilt wird, wird er gefragt, ob er einen letzten Wunsch hat. Ich frage mich, was wohl Sedats letzter Wunsch war. Mit wem er sprechen wollte, was er sagen wollte, aber so schnell war er mit einem Schuss weg, dass er nicht mehr darüber nachdenken konnte.

Viele sagen, wir waren bei euch. Ich weiß gar nichts. Ich weiß nicht wer gekommen ist. Psychologische Unterstützung habe ich vom türkischen Konsulat angeboten bekommen. Sie haben einen Termin gemacht. Ich frage mich, ob ich in der Türkei oder Deutschland bin. Vom deutschen Staat wurde das nicht für mich gemacht. Franke und diese Politiker kamen später. Welchen Tag, weiß ich nicht. Von der türkischen Regierung sind mehrere Personen gekommen. Wir haben irgendwann finanzielle Unterstützung aus Berlin vom Opferbeauftragten Franke bekommen. Das waren die Gelder, die alle bekommen haben. Das was uns zusteht. Beim Land Hessen gibt es auch einen Opferfonds, da haben wir Anträge gestellt, aber noch nichts vom Land bekommen. Der Opferbeauftragte, keine Ahnung wann ich ihn das letzte Mal gesehen habe, es ist lange her. Auch nachher hat sich von offizieller Stelle praktisch keiner um uns gekümmert.

Wichtig war mir, dass mein Kind nicht vergessen wird. Ich musste lange, lange kämpfen für ein Andenken an mein Kind. Die Stadt Hanau hat mir nicht geholfen. Sie haben Gedenktafeln an den Tatorten angebracht und auf dem Friedhof für die drei in Hanau beigesetzten. Aber das Denkmal wollen sie nicht auf dem Marktplatz? Obwohl Kaminsky [Hanaus Bürgermeister, Anm. d. A.] uns versprochen hat, dass wir, die Familien, das entscheiden. Durch mein ermordetes Kind ist Kaminsky bundesweit bekannt geworden. Mit der Stadt Dietzenbach musste ich lange kämpfen, um ein Ehrengrab für mein Kind und eine Gedenkstele zu bekommen. Viele Dietzenbacher haben mich dabei unterstützt. Es muss erst ein Bürgermeister abgewählt werden, damit wir es endlich bekommen konnten. Zwei Tage bevor die Gedenkstele eingeweiht wurde, als wir sie aufgestellt hatten, da hat ein alter Rassist sich die Stele angeschaut, und dann laut „Scheiße“ geschrien. Dann habe ich ihm gesagt, ein Unmensch wie Sie hat die 9 Kinder ermordet. Der Rassismus geht immer weiter, er hört nicht einfach auf. Ich erwarte, dass die Verantwortlichen die Fehler zugeben. Bisher hat niemand die Verantwortung übernommen. Die hessische Landesregierung hat unseren Schmerz eher größer gemacht. Für unsere Familien wurde alles schwer gemacht, anstatt zu erleichtern.

In seinen 42 Jahren als Anwalt hat er noch schlimmere Fälle gesehen, hat Bouffier mir letztes Jahr gesagt. Herzloser, gefühlloser, eiskalter Mann. Dem geht es gut. Er kann mir sowas nicht sagen. Das war mein eigenes Herz und Blut. Sie hätten so vieles machen können, vor allem unsere Fragen beantworten. Ich habe viele Fragen. Warum ist das passiert? Weshalb sind diese Kinder ermordet worden? Ist mein Kind, um sein Land zu schützen, in den Krieg gezogen? Nein! Weshalb ist er ermordet worden? Das war ein sinnloser Mord. Wegen was? Weil wir Ausländer sind. Der Mörder unserer Kinder hat seine Todesdrohungen öffentlich im Internet ausgestoßen. Dort kursieren sehr viele böse Drohungen. Aber der Mörder hatte einen Waffenschein, durfte in aller Ruhe im Schützenverein für seine grässliche Tat üben. Ja, man hat noch nicht einmal nachgeforscht, als er seinen Waffenschein verlängern wollte. Er hatte vorher öffentlich im Internet Hasstiraden und Todesdrohungen gegenüber Menschen ausgestoßen, die er pauschal Ausländer genannt hat. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft, die Waffenbehörde, es haben so viele Fehler gemacht. Wieso hat keiner den Mörder gestoppt? Es übernimmt keiner Verantwortung. Jetzt sagt die Waffenbehörde aus Fehlern lernt man. Ich glaube nicht daran. Es ist zu spät. Schaffen sie endlich eine Stelle, wo solche Fälle zuverlässig geprüft werden. Wann wollt Ihr endlich lernen? Ihr habt schon so lange gewartet, dass mein Kind ermordet wurde. Diese Nacht ist auf Grund eurer Nachlässigkeit geschehen. Wenn Ihr Verantwortung übernommen hättet, wäre mein Kind noch am Leben. Das ist Euer Weg? Seit den 1980er-90er Jahren sind so viele rassistische Morde passiert. Ich bin mir sicher die Morde von Hanau wären nicht passiert, wenn daraus gelernt worden wäre.

Ich war eingeladen zu einer Veranstaltung der Stadt Frankfurt. Es geht um die Gastarbeitergeneration. Mein Vater ist als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Nach 60 Jahren gibt es diese Veranstaltung. Der Dank für meinen Vater war, dass ein Rassist seinen Enkel ermordet hat. Wir brauchen keinen Dank, wir brauchen einfach ein Ende der rassistischen Gewalt. Ich wende mich auch an die indirekt Verantwortlichen. Ich beschuldige sie alle, die Feindseligkeit, den Rassismus geschürt zu haben. Deutschland hat mein Kind aus dieser Welt ausradiert.“

Auf die Frage des Vorsitzenden, ob sie noch etwas vergessen habe, ergänzt Emiş Gürbüz ihre Ausführungen noch:

Ich erinnere mich an Wahlplakate mit „Ausländer raus“. Was haben wir Euch getan? Warum hasst Ihr uns? Warum liebt Ihr uns nicht? Ich möchte, dass Ihr dafür bestraft werdet, aber nicht mit Euren Kindern. Wir haben keine Angst vor Deutschland. Deutschland soll vor uns Angst haben. Ich habe schlaflose Nächte. Ihr schlaft, bis Euer Wecker Euch weckt. Habt Ihr innere Ruhe? Wir werden keine Ruhe geben. Ich hoffe, dass dieser Ausschuss gründlich arbeitet und aufklärt. Deutschland schuldet mir ein Leben. Ich will mein Kind zurück.“

In der anschließenden Befragung von Emiş Gürbüz, bei der alle Abgeordneten ihr Beileid und Mitgefühl ausdrückten, schilderte sie, wie sie und ihre Familie im Unklaren gelassen wurden, was mit Sedat passiert, dass er obduziert werden muss; wie sie alleine gelassen wurden mit der Bürokratie, die mit der Beantragung von Hilfsleistungen einhergehen, wie sich weder der Opferbeauftragte Franke, noch der Innenminister oder Ministerpräsident bei ihnen meldeten, wie niemand Verantwortung übernehmen will.

Als die Befragung endete, übergibt der Ausschussvorsitzende das letzte Wort erneut an die Zeugin:

Ich will zum Schluss sagen, unsere Trauer wird nie beendet sein. Erst wenn ich bei meinem Kind bin, ist die Trauer vorbei. Ich brenne, von oben bis unten. Ich habe noch ein Kind, ich weiß. Eines war meine rechte Seite, eines war meine linke Seite. Wie kann ich weiterleben? Ich versuche, aber ich schaffe es nicht.“

Mein Sohn ist gestorben, weil die 110 nicht erreichbar war.“ – Anhörung von Niculescu Păun

Nach einem nicht-öffentlichen Sitzungsteil wird der öffentliche Teil der Sitzung mit der Zeugenaussage und -befragung von Niculescu Păun fortgesetzt. Er erscheint mit einer Dolmetscherin, die für ihn übersetzt. Niculescu Păun ist der Vater von Vili-Viorel Păun, der bei einem Akt von Zivilcourage den Täter nach Hanau-Kesselstadt verfolgte und dort von diesem in seinem Auto ermordet wurde. Niculescu Păun beginnt mit seinem Eingangsstatement:

Danke, dass ich hier sein kann, um einige Sachen zu erklären und meine Klage zu klagen. Wir sind eine Familie, die aus Rumänien kommt, kamen 2016 hierher, 2017 sind wir in Hanau eingezogen, 100 Meter von der Stelle des ersten Anschlags. Mein Sohn war ein Mustersohn. Ein verlässliches Kind. Dieses Kind habe ich leider in der Nacht vom 19. verloren.

Bevor ich starte, möchte ich ihnen Umschläge verteilen. Sechs Umschläge für die Parteien und einen für den Vorsitzenden. Darin sind Dokumente, journalistische Ermittlungen und jeweils ein USB-Stick mit Daten. Es ging bei der Polizei nicht gut und korrekt zu, obwohl es mir schwer fiel dies zu glauben. Ich möchte Ihnen diese Umschläge verteilen. [Zeuge verteilt Umschläge, Anm. d. A.].

Wir sind eine Familie, die gearbeitet hat und sich entschieden hat, in Deutschland zu leben. Leider ist in der Nacht des 19.2. ist mein einziger Sohn verloren gegangen. Am 19.2. gegen 22:00 Uhr war ich im Zimmer meines Sohnes, um das Fenster zu schließen, da hörte ich fünf bis sechs Schüsse auf der Straße. Seine Mutter war gerade dabei, das Abendessen vorzubereiten. Ich ging zu meiner Frau Iulia und sagte, da sind Schüsse. Meine Frau wollte das nicht glauben und sagte, das sei Feuerwerk.

Wir hätten am nächsten Tag zur Arbeit müssen, am 20.2. sind wir gegen sechs Uhr – ich hatte gar keine Vorahnung, nur dass der Vili so etwas noch nicht gemacht hatte. Ich musste meine Frau irgendwie beruhigen. Ich sagte, Vili ist ein junger Mann, er arbeitet, vielleicht ist da ein Mädel.

Am 20. Februar um sechs Uhr. Ab 6:05 Uhr fing ich an meinen Sohn anzurufen, der Anruf ging durch. Ich rief meinen Sohn immer wieder an, bis ich auf der Arbeit ankam. Auf dem Weg habe ich das Radio angeschaltet, da ging es los mit den Nachrichten. Was wir damals nicht wussten, war, dass unser Sohn damals schon tot war. Es waren schon acht Stunden. Wir wussten nichts von ihm und waren sehr besorgt. Seine Freundin hatte Zugriff aus seinen Messenger, sie hatte sein Passwort. Ich fragte Vilis Freundin, sie wusste auch nichts. Ich sagte zu meinem Chef, ich muss weg und meinen Sohn suchen, ich schrieb eine letzte Nachricht an meinen Sohn: „Wieso gehst du nicht ran, ich kann deine Mutter nicht beruhigen“. Gegen 11 Uhr oder 12 Uhr bin ich am Heumarkt angekommen, er war komplett gesperrt. Ich rief meinen Schwager an, Iulia und ich gingen gegen 12 Uhr zur Polizei am Marktplatz.

Wir wurden von einem Mann und einer Frau empfangen. Ich gab die Daten meines Sohnes und das Autokennzeichen, meine persönlichen Angaben. Das war schon 14 Stunden nach dem Anschlag. Der Polizeibeamte Herr Strauß sagte, wir müssen zum Freiheitsplatz gehen, dort haben wir eine bessere Ausstattung und werden ihren Sohn gleich finden. Auf dem Weg zum Freiheitsplatz fragte er, ob wir noch Kinder hätten. Nach einer kurzen Wartezeit an der Wache hat uns der Beamte in ein Zimmer geführt und teilte uns mit, unser Sohn sei am Kurt-Schumacher-Platz erschossen worden.

Wir waren schockiert. Meine Frau wurde ohnmächtig, der Rettungswagen kam. Der Polizist sagte, wir sollten warten, jemand von oben würde mit uns sprechen wollen. Nach fünf Minuten war er einfach weg. Uns wurde mitgeteilt, dass der Körper unseres Sohnes in Frankfurt ist.

Ich komme jetzt zum Tod meines Sohns im Auto: 30-40 Minuten nach der Tat waren schon Bilder in den Medien zu sehen. Aber zuerst waren die Bilder auf Facebook und Instagram, später in den Medien, keiner wollte uns darüber informieren. Man hat anscheinend erwartet, dass wir uns selbst im Internet informieren. Mein verstorbener Sohn ist am Tatort bis ca. 23 Uhr geblieben. Keiner aus der Polizei wollte uns das mitteilen. Erst am späten Abend haben wir verstanden, wo der Kurt-Schuhmacher-Platz war. Ich war dort nie, kannte den Platz nicht. Gegen 22 Uhr bin ich mit meinem Schwager zum Kurt-Schuhmacher-Platz gefahren, es regnete. Der Platz war abgesperrt. Ich versuchte den Polizisten zu erklären, dass ich der Vater eines der Opfer war, sie wollten mit mir aber nicht reden.

Leute sagten, ich hatte Glück, ich war in meinem Auto und hörte Musik und habe nichts mitbekommen. Dann habe ich aber das Auto deines Sohns gesehen, dein Sohn hat noch gelebt.

Dann sind wir in die Sporthalle in der Heinrich-Heine-Straße gegangen, dort traf ich den Vater von Mercedes. „Was bist du für ein Vater, warum bist du nicht früher gekommen?“ Ich erklärte ihm, ich hätte nichts gewusst, keiner hätte uns etwas gesagt. Während dieser ganzen Sache waren wir ganz allein, keine psychologische Unterstützung, keine Informationen, wir waren im Schockzustand.

Nach dem 20.2.2020 sind wir nie wieder in die Glockenstraße zurückgekehrt, wir konnten nie wieder in die Wohnung.

Zwei Tage nach dem Anschlag kamen zwei Polizisten, um uns nach Obertshausen zu bringen, um DNA-Proben zu entnehmen. Wieder keine Informationen, keine Erklärung. Die ganze Zeit haben wir uns gefragt, warum unser Sohn in Kesselstadt starb, wollte er dort etwas einkaufen?

Bei meiner ersten Unterhaltung mit dem BKA über Facebook: Das waren die falschen Klamotten, Kleidungsstücke, die eines anderen Opfers. Das BKA schrieb mir, sie könnten nur in Deutsch oder Englisch antworten.

Zitat „Zigeuner und Zivilcourage“, das war am ersten Tag in der Halle. Die Polizisten wussten nicht, dass ich es verstanden habe.

Ich hatte viele schlaflose Nächte, in denen ich versuchte zu rekonstruieren, was mit meinem Sohn passiert ist. Die Polizei wusste es, ich hatte aber keine Informationen.

Am 23.02.20 war ich mit meinem Schwager am Kurt-Schumacher-Platz in dieser Schule, die speziell dafür eingerichtet war. Dort wurde ich von einer Polizistin in Empfang genommen und wurde gefragt, wo ich bisher war. Sie hätten mich versucht anzurufen. Ich fragte, „welche Nummer?“, sie zeigte mir die Nummer meines Sohnes. Ich fragte nochmal, „wo haben sie diese Nummer her?“ Die Polizistin sagte, aus dem Internet. Ich teilte mit, ich hätte bei der Polizei bereits alle meine Daten, auch meine Telefonnummer, am 20.2. in der Polizeistation in Hanau abgegeben. Sie sagte nichts. Ich konnte nicht glauben, wie die Polizei gearbeitet hat.

Nach der Beerdigung sollten die Kleidungsstücke meines Sohnes zurückgegeben werden, dann war das Thema die Rückgabe des Autos. Die Polizei wollte das Auto vor dem Haus stehen lassen, Iulia und ich wollten das nicht akzeptieren. Das Auto hatte sieben Einschusslöcher. Ich suchte nach einem Parkplatz bei einem Autohändler.

Die Polizei hat einen Monat gebraucht, um dieses Treffen zu organisieren. Ich verlangte nach einem Dolmetscher. An dem Tag war ich da unter anderem zusammen mit meiner Anwältin [dort]. Die Polizei hatte keinen Dolmetscher dabei. Man sagte mir in 10 Minuten kommt ein Dolmetscher, kam aber nicht. Meine Anwältin hat dann vorgeschlagen, für mich zu übersetzen.

Die Übergabe des Handys am 13.5.2020: Ich war nicht selbst da, meine Anwältin hat es abgeholt. Sie fragte mich nach dem Pin… Dann ploppte es auf. Drei Mal hat er 110 angerufen, einmal 11, einmal 10. Am nächsten Tag sollten wir nach Wiesbaden kommen am 14.5. Hier zeigte ich das erste Mal das Handy.

Im November 2020 kam die Akte zu meiner Anwältin zusammen mit dem Obduktionsbericht. Darin stand, dass ich tot sei. Da stand an mir sei eine Obduktion vorgenommen worden. Es ist doch so, dass die ersten 24 Stunden die wichtigsten für die Aufklärung einer Tat sind. Die Urkunde, die sie in den Umschlägen haben. Am 22. und 24. und 25. hatten sie Vili noch immer nicht identifiziert. Laut Akten soll es ein 42-jähriger Mann sein?

Die Notrufe meines Sohnes wurden nicht über das Polizeisystem registriert.

Versagen bei dem Notruf: Wie angegeben, am 24.5. habe ich erstmals öffentlich mitgeteilt, dass mein Sohn den Notruf anrief, ohne Erfolg. In einem Interview, dass das PP Südosthessen dem ZDF gab, wurde gemeldet, dass wahrscheinlich mehrere Anrufe gleichzeitig [eingingen].

Im Januar 2021: Das Magazin Monitor, Hessenschau und Spiegel haben veröffentlicht, dass es nur zwei Notrufleitungen bei der Polizei gab und keine Weiterleitung. In den

vorigen Monaten hat das keiner von Polizei oder Behörden zugegeben. Jetzt musste das technische Versagen erstmals zugegeben werden, das sind unwürdige Bedingungen in Hanau, Hessen und Deutschland.

Am 11.Februar 2021 gibt Innenminister Beuth im Innenausschuss des hessischen Landtags eine Erklärung ab. Er räumt nach den entsprechenden medialen Veröffentlichungen der Vortage nochmals ein, dass es technische Probleme mit der 110 in Hanau gab. Gleichzeitig täuscht er den Eindruck vor, dass der Notruf in der Tatzeit zunächst mit zwei und dann sogar drei Personen besetzt war.

Ich zitiere aus dem öffentlichen Protokoll dieser Sitzung:

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die hessische Polizei ist eine gut aufgestellte Polizei. Das hat sie auch vor einem Jahr in Hanau bewiesen. So sind nach dem Eingang des ersten Notrufs bereits nach wenigen Minuten Polizeikräfte am ersten Tatort eingetroffen. Die bei der Polizeistation Hanau I vorhandenen Notruftelefone waren besetzt, und es wurden in der Folge weitere Anrufe angenommen.“ (Seite 15 des Protokolls vom 11.2.2021)

Zur unmittelbaren Tatzeit haben sich zwei Polizeibeamtinnen der Polizeistation Hanau I sofort mit der Entgegennahme der Notrufe befasst. Zur Unterstützung für den weiteren Einsatzverlauf wurde ein zusätzlicher Polizeibeamter hinzugezogen.“ (Protokoll vom 11.2.2021)

Noch am 11. Februar 2021 täuscht der Herr Innenminister die Öffentlichkeit, indem er so tut, als wären beide verfügbaren Leitungen von Beamten besetzt gewesen wären. Die Staatsanwaltschaft Hanau und auch der Polizeichef von Hanau, Jürgen Fehler, werden in den darauffolgenden Monaten öffentlich sagen, dass – von einem Anruf auf der zweiten Leitung abgesehen – kein zweiter Beamter mehr Notrufe in der entscheidenden Zeit angenommen hat. Dazu komme ich gleich noch.

Meine Strafanzeige von Juni 2021: Es gab nach der Presseveröffentlichung bisher keine weiteren Informationen, Die Staatsanwaltschaft hat angegeben, es gebe ein Prüfverfahren, aber auch dazu habe ich über Monate hinweg keine weiteren Informationen erhalten.

Bereits Ende Juni bekam ich dann einen 33-seitigen Brief der Staatsanwaltschaft Hanau. Darin wird einleitend erklärt, dass die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abgelehnt wird. Wenige Tage später, am 5. Juli 2021, gibt die Staatsanwaltschaft Hanau eine 24-seitige Presseinformation heraus. Aus beiden Texten zusammen lässt sich der Ablauf in den entscheidenden 10 Minuten weitgehend rekonstruieren.

Zusammengefasst: In der Tatzeit zwischen 21:55 und 22:05 war – von einem Notruf mit 16 Sekunden abgesehen – nur eine Beamtin im Einsatz, die in dieser entscheidenden Phase insgesamt nur zwei Notrufe entgegennehmen konnte. Alle anderen Notrufe scheiterten, darunter auch drei Versuche von meinem Sohn.

Etwas detaillierter: Eine Polizeibeamtin saß durchweg an der einen der beiden verfügbaren Leitungen und nahm um 21:56:34 einen ersten Notruf vom ersten Tatort an, der ca. drei Minuten lang dauerte. Ein zweiter Beamter nahm parallel um 21:56:42 auf der zweiten Leitung einen weiteren Notruf vom Heumarkt entgegen. Dieses Gespräch endete allerdings bereits nach 16 Sekunden, sofort danach verließ dieser Polizist den Notrufplatz und fuhr mit einem Kollegen zum Tatort. Ab 21:56:58 – und damit in den entschiedenen nachfolgenden Minuten – war also nur noch eine der zwei Notrufleitungen von einer Beamtin besetzt, die zweite Leitung blieb komplett unbesetzt. Wer hier anrief, hörte entweder ein unbeantwortetes Frei-Zeichen, ein Besetzt-Zeichen oder – wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Veröffentlichung vom 5. Juli 2021 nach mehreren Tests speziell für Vodafone- Netze formuliert: „schlicht Stille“.

Nochmal: Das schreibt die Staatsanwaltschaft. Und mein Sohn hatte Vodafone.

Um 21:57:54 Uhr versuchte mein Sohn das erste Mal, die 110 zu erreichen. Wie sich durch Video-Aufzeichnungen rekonstruieren lässt, tätigt Vili diesen ersten Anruf eine knappe halbe Minute, bevor er – den Täter nach Kesselstadt verfolgend – den Tunnel am Hanauer Westbahnhof durchfährt. Das heißt, dass dieser erste Anruf in der Herrnstraße oder vom Kanaltorplatz aus stattfand, als Vili den Täter zunächst verfolgt und versucht hatte, dessen Abfahrt mit seinem Auto zu blockieren.

In dieser Phase – am Kanaltorplatz – hatte mein Sohn wahrscheinlich schon Menschenleben gerettet, weil der Täter flüchtete, anstatt wie nach seinen Notizen geplant auch in der Nähe gelegenen „Le Bar“ weitere Personen zu ermorden. Der Plan des Täters war mindestens 10 Personen am Heumarkt zu ermorden und Vili störte ihn dabei. Gleichzeitig hätte die Polizei von Vili das Autokennzeichen und dessen Fahrtrichtung erfahren können, um eine Fahndung zu starten. Die Polizei hätte Informationen mit Vili austauschen können, z.B. wo er ist. Die Polizei hätte die Fahrtrichtung erfahren, sie hätte Vili warnen sollen, hätte ihm sagen sollen, wir kümmern uns darum, bleib stehen. Ab dem ersten Anrufversuch von Vili dauerte es immerhin noch 2 Minuten und 34 Sekunden, bis der Täter den zweiten Tatort erreiche. Ob diese Zeit hätte reichen können, um die Morde am zweiten Tatort verhindert hätten werden können, bleibt ungewiss. Doch das muss von der Staatsanwaltschaft ermittelt werden und das wurde bislang nicht gemacht. Aufgezeichnet und auch von der Staatsanwaltschaft Hanau bestätigt ist, dass Vili zwei weitere Male nicht zum Notruf durchkommt, zwei weitere Chancen von Vili, zwei weitere Chancen.

Beuth am 11.02.21 hier im Innenausschuss: Wäre der wegfahrende Polizist am Notruf verblieben, wäre der Anruf mit einiger Wahrscheinlichkeit durchgegangen. Der Polizist hätte Vili warnen können und Vili hätte Informationen mitgeben können.

Dazu Fragen: Warum hat der Polizist den Platz verlassen? Hat er das selbst entscheiden oder ein Vorgesetzter? Aus den Akten geht hervor, dass sich ein weiterer Polizist im Gebäude befand mit anderen Aufgaben. Warum hat der POK nicht erst diesen an den Notruf geholt und erst dann zu Tatort gefahren?

Bestätigt wird die nicht besetzte zweite Leitung vom Leiter der Polizeidirektion Hanau, Jürgen Fehler, in einer Dokumentation des Hessischen Fernsehens.

Ich zitiere die Antwort von Jürgen Fehler: „Es war die richtige Entscheidung. Die Kollegen haben meine volle Rückendeckung. Ja, es war die richtige Entscheidung. Draußen spielt sich die Gefahr ab.“ Und später weiter, Zitat: „Die Polizei gehört auf die Straße und hat die Gefahr draußen anzugehen. Und nicht auf der Wache zu warten, ob da noch weitere Telefonate eingehen“

Polizeichef Jürgen Fehler bestreitet also nicht mehr, wie sein Innenminister, dass der Notruf in der entscheidenden Phase nur noch mit einer Person besetzt war. Er rechtfertigt es mit der Situation und bringt aber nicht den Mut auf, die eigene Unterbesetzung zuzugeben. Und er sagt nichts zur Tatsache, dass der Besetzung der Notrufplätze besondere Bedeutung zukommt.

Dass die technische Ausrüstung bereits seit vielen Jahren in der Kritik stand, ist bereits in früheren Presseveröffentlichungen bekannt geworden. Die Staatsanwaltschaft Hanau hat die nahezu 20 Jahre lange Geschichte des Notrufdesasters dargestellt und bereits 2016 dargelegt, wie wichtig eine möglichst große Anzahl von Notrufabfrageplätzen ist.

In den Ausführungen der Staatsanwaltschaft war bereits 2016 erkannt worden, dass in Minuten nach einem Anschlag eine möglichst große Zahl an Notrufen annehmen zu können. Es wird dabei vor allem auf mobile Täter hingewiesen, die auf der Flucht in kürzester Zeit eine gewisse Strecke zurücklegen können, so dass bei einer unzureichenden Kapazität der Notrufabfrageplätze Ortsangaben für die eingesetzten Kräfte nur stark verzögert oder inaktuell übermittelt werden könnten. Dabei erklärt die Staatsanwaltschaft ausdrücklich, dass das beschriebene Szenario Ähnlichkeiten zum Anschlag am 19.2. aufweist. Was bedeutet das? Das bedeutet, dass nahezu 20 Jahre das Risiko für die Hanauer Bevölkerung aufgenommen wurde. 20 Jahre Risiko, dann kam es dazu am 19.2.2020.

Hat Fehler, der seit 2018 bei der Polizei in Hanau arbeitet von der Problemlage seit 2016 nichts mitbekommen? Warum wurde nichts unternommen? Spätestens ab 14. Mai 2020, als ich zum ersten Mal öffentlich thematisierte, dass mein Sohn vergeblich versucht hatte, den Notruf zu erreichen, hätten er und andere zumindest einräumen können, dass der Notruf in Hanau technisch veraltet und personell unterbesetzt war.

Warum hat die Polizeiführung in Südosthessen nichts unternommen? Das war bis zum Juli 2020 Roland Ullmann. Er ist heute hessischer Polizeipräsident Was hat Herr Ullmann gewusst? Warum hat er nichts unternommen? Warum hat der damalige Polizeipräsident Münch nichts unternommen? Und nicht zuletzt warum hat Beuth nichts unternommen? Warum hat er sogar am 11.2.21 im Innenausschuss die Öffentlichkeit getäuscht? Mittlerweile wissen wir, dass die Aussagen von Herrn Beuth nicht der Wahrheit entsprechen. Nur noch ein Beamter war am Telefon. Das zweite Telefon klingelte, ohne abgenommen zu werden und mein Sohn kam nicht durch. Wer trägt die Konsequenzen? Ein Organisationsversagen ist offensichtlich. Was besonders bitter ist, dass Staatsanwaltschaft Organisationsversagen einräumt aber keine Ermittlungen aufnehmen will. Die Staatsanwaltschaft unterstellt, dass nicht sicher sei, dass Vili den Anweisungen der Polizei vielleicht nicht Folge geleistet hätte. Mein Sohn hat bis zur letzten Minute an die Polizei geglaubt. Vili hätte 100-prozentig noch leben können und die Angegriffenen in der Arena-Bar auch.

Am 18. Juni. 2021 wurde Vili von Bouffier mit Ehrenmedaille ausgezeichnet. Doch nur 10 Tage später unterstellt die Staatsanwaltschaft Hanau Vili, womöglich nicht auf die Polizei gehört zu haben. Dabei versuchte er es immer wieder, weil er Hilfe brauchte und wollte, versuchte es 5 Mal.

Sein Handy war mitten in der Stadt, warum sollte sein Netzempfang nicht funktioniert haben? Natürlich gibt es eine Kausalität, mein Sohn ist gestorben, weil die 110 nicht erreichbar war. Worauf wartet die Staatsanwaltschaft noch? Dass ich und meine Frau uns im Internet informieren?

Die ersten Fotos vom Auto meines Sohnes waren wenige Minuten nach der Tat im Internet.

Am 20.2. hatte ich zwischen 6 und 11 Uhr immer wieder versucht meinen Sohn zu erreichen. Warum ließ die Polizei es einfach klingeln? Warum gab es keinerlei Infos an uns die Eltern?

Vili war nach dem Mord mehr als 23 Stunden im Auto. Dazu wurde uns nie etwas erklärt.

Sie wollten das Auto einfach auf der Straße stehen lassen. Der Rucksack und das Paket blieben 5 Monate ungeöffnet. Im Obduktionsbericht stehe ich als Ermordeter. Und wir wurden nie um Erlaubnis gefragt wegen der Obduktion. Und vor allem was war das Problem mit Notruf? Wer ist dafür verantwortlich, dass mein Sohn 110 nicht erreichen konnte? Wir fühlen tiefen Schmerz, wir sind auf der Suche nach Wahrheit, nicht nach Sündenböcken. Ich habe, wie mein Sohn, an Polizei geglaubt. Im Namen der 9 Menschen: Wir wollen Wahrheit und Konsequenzen. Danke schön.“

In der anschließenden Befragung durch den Ausschussvorsitzenden und die Abgeordneten sprachen ihm diese ihr Beileid aus und versprachen, sich um Aufklärung zu bemühen. Auf Nachfrage berichtete Niculescu Păun, wie er sich allein gelassen fühlte, wie es zu keinen Treffen mit der Polizei kam, sie als Familie keine Informationen bekamen und bei der Autopsie nicht gefragt wurden. Informationen habe er aus Presseberichten erhalten, so der Zeuge. Für passierte Fehler, wie das Übersenden falscher Kleidungsstücke oder das sein Name statt der seines Sohnes in Autopsieunterlagen auftauchte, habe sich niemand entschuldigt.

Warum hat man uns im Unwissen gelassen?“ – Anhörung von Saida Hashemi

Die dritte und letzte Zeugin des Tages war Saida Hashemi, Schwester von Said Nesar Hashemi. Auch die 26-jährige Lehramtsreferendarin erklärte zunächst von sich aus eine Aussage tätigen zu wollen:

Mein Vater ist 1986 nach Deutschland gekommen, meine Mutter ist 1994 nach Deutschland. Ich bin als ältestes Kind 1995 auf die Welt gekommen. Said Nesar ist 1998 auf die Welt gekommen.

Zu mir: Ich bin 26 Jahre alt, habe Lehramt studiert, bin Referendarin in Hanau. Said Nesar wurde nur 21 Jahre alt. Nach seinem Abschluss hat er ein Jahr gearbeitet, dann eine Weiterbildung gemacht. Mein Bruder und ich haben eine sehr gute Beziehung geführt. Er hat viel gelacht, hatte immer ein offenes Ohr, er war eine Person, die sich Zeit genommen hat und die immer mit Rat und Tat zur Seite stand.

Der 19. Februar: Nach einem langen Tag entschieden sie sich in die Arena Bar zu gehen, es war kalt und die Arena Bar das Einzige, was offen war. Zu dem Zeitpunkt habe ich noch studiert. Um 22 Uhr wurde ich von meiner Mutter geweckt, es wurde draußen geschossen, deine Brüder sind nicht da. Mein Vater war nicht da. Er war in der Rehaklinik bei Kassel. Aus der Ferne konnte ich schon erkennen, dass etwas nicht stimmt. Als ich am Kurt-Schumacher-Platz ankam, merkte ich, dass etwas nicht stimmt. Über den Lidl-Parkplatz kann man auf die Arena Bar schauen. Die Polizei sperrte alles ab. Auf dem Lidl-Parkplatz stand ein Auto. Da war die Leiche von Vili. Meine Mutter hat sie gesehen und ist umgekippt. Es kamen dann Sanitäter und haben meiner Mutter geholfen. Dann wurde der Lidl -Parkplatz abgesperrt. Wir sind außen rum zum Kurt-Schumacher-Platz gelaufen. Haben einen jungen Polizisten angetroffen. Mein Bruder Etris wurde am Hals und Arm angeschossen, er war zu dem Zeitpunkt bei Bewusstsein. Er meinte nur, er wurde in ein Krankenhaus gefahren. Er konnte nicht sagen welches. Meine Mutter ist wieder umgekippt. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich Vater anrufen werde, damit er davon weiß. Er hat versucht sofort nach Hanau zu fahren. Er hatte kein Auto. Ich habe meine Mutter gebeten mit ihrer Freundin nach Hause zu gehen. Ich habe versucht Informationen zu suchen. Mein Vater ist dann Taxi gefahren. Vor Ort haben wir von einem städtischen Bus erfahren. Gegen 23 Uhr oder 0 Uhr sind wir mit dem Bus nach Lamboy zum Polizeirevier gefahren. Ich habe eine Vermisstenanzeigen ausgefüllt, denn ich wusste von beiden nicht, wo sie sind. Wir haben gewartet, haben uns entschieden in die [von der Polizei als Warteraum angebotene, Anm. d. A.]Sporthalle zu gehen.

Währenddessen habe ich mit einem Polizisten gesprochen, er hat mir erzählt, nicht aus der Gegend zu sein, da er aus Bayern ist. Wir sollten warten und im Laufe der nächsten Stunde Infos bekommen. Ich kannte niemanden in dem Raum. Im Laufe der Nacht kamen Freunde meiner Brüder. Es gab Seelsorger, einen Pfarrer aus Schlüchtern. Ich habe eine Nachricht meiner Mutter bekommen, mein Bruder liege im Klinikum Hanau, er lag bewusstlos an Schläuchen in einem Bett. Da sie im Hanau keine Chirurgie haben, sollte er warten, bis es einen Platz in Uniklinikum gab. Vater kam dazu. Meine Mutter hat aus dem Krankenhaus berichtet, dass ihr kein Seelsorger Beiseite gestellt wurde. Ich war die ganze Zeit in der Halle. Die Polizei wusste im Gegensatz zu seinen Freunden nicht, wo Etris war: im Hanauer Krankenhaus. Während online die Zahl der Toten stieg, blieben wir uninformiert. Morgens wurden die Namen verlesen. Nach jedem Namen schrien und weinten mehr Menschen. Um 8 Uhr morgens sollten wir eine Nummer anrufen. Wir haben uns allein gelassen gefühlt. Ich meinte zu meinem Vater, er solle ins Krankenhaus zu meiner Mutter fahren. Ich fuhr nach Hause, habe bis 8 Uhr gewartet und dann die Nummer angerufen. Ich sollte warten, würde zurückgerufen werden.

Wo ist die Leiche meines Bruders? Wieso musste mein Bruder sterben? Ich habe mir keine Gedanken gemacht, wer der Täter war, habe mir Sorgen um Etris gemacht. Wird er Folgeschäden haben? Hat er gesehen, wie sein kleiner Bruder ermordet wurde? Ich habe mit der Migrationsbeauftragten der Polizei Südosthessen telefoniert. Sie meinte die Leiche wurde beschlagnahmt, wir sollten warten. Eine ganze Woche hat man uns im Dunkeln stehen lassen. Ich habe seine Leiche erst am Donnerstag auf dem Hauptfriedhof gesehen. An dem Tag hat es geschneit. Ich bin froh, dass ich ihn nochmal sehen konnte, bevor er am 28.2 auf dem Friedhof beerdigt wurde. Meinen Eltern war es wichtig, dass ihre Kinder in Deutschland in Sicherheit leben konnten. Das wurde uns am 19.2 genommen.

Zum Handy: Wir bekamen fast alles die nächsten Wochen wieder, außer die Handys meiner Brüder. Etris konnte es nach Monaten abholen, Nesars Handy bekamen wir nicht, uns wurde nur gesagt das es noch ausgewertet wird. Wir mussten Monate lang warten, ohne, dass uns was erklärt wurde. Trotz eines Schreibens von Herrn Franke kam nichts. Wir haben mit der Initiative ein Schreiben ans BKA aufgesetzt. Wir sollten uns gedulden. Am 26.6. gab es ein Gespräch mit der Bundesanwaltschaft. Auf unsere Frage zu den Handys wurde gesagt, die wurden gespiegelt. Die Rückgabe verzögerte sich, da es intern keine richtige Kommunikation gab. Dies führte zur Verzögerung der Rückgabe. Wenn es schon bei Handys solche Schwierigkeiten gab, wo noch? Das Handy wurde zurückgesetzt, es waren keine Daten drauf. Warum, das wissen wir bis heute nicht.

Als Fazit kann ich sagen: Warum hat man uns im Unwissen gelassen?

Was mit den Leichen passiert ist, das hat man uns nicht sagt. Warum konnte man nicht sagen, was es heißt, dass eine Leiche beschlagnahmt wird. Ich wünsche Aufklärung dazu, was passiert ist, warum ein psychisch Kranker Waffen besitzen kann, warum da nichts passiert ist.“

Nach ihrer Aussage bedankten sich die Abgeordneten bei Saida Hashemi für ihr Kommen und sprachen ihr Kraft und Beileid aus.

Auf Nachfrage führt sie die Situation in der Halle, in der die Angehörigen die Namen der Opfer erfuhren, weiter aus: „Beamte kamen in die Halle, die Angehörigen saßen drum herum. Ein Beamte meinte, jede Familie hat einen Angehörigen verloren. Er hat dann die Namen verlesen. Die Leute sind umgefallen, haben geschrien, geweint. Dann hat er auf die Nummer verwiesen. Ich hatte mir das anders vorgestellt, man hat sich da allein gelassen gefühlt. Nachdem die Namen verlesen wurden, kam niemand zu uns, es gab nur eine mysteriöse Nummer. Wir hätten uns eine konkrete Person gewünscht, keine unbekannte Nummer ohne Erklärung. Mir wäre es wichtig gewesen, erklärt zu bekommen, warum Sachen geschehen, warum eine Obduktion durchgeführt wird. Warum dauert manches so lange. Uns würde es einfach interessieren, warum bestimmte Dinge passieren. Wir wurden hauptsächlich im Dunkeln gelassen.“ Auch hätte sie sich Hilfe gewünscht, wie man jüngeren Kindern die Tat vermittelt. Ihre erste richtige psychologische Sitzung habe ihre Familie erst am 18.3 gehabt.

Nach der Anhörung von Saida Hashemi endete der öffentliche Teil der zweiten öffentlichen Sitzung des Hanau-Untersuchungsausschusses, in dem erneut Angehörige bewegend von ihren Schmerzen, ihrem Verlust und dem Gefühl, alleine gelassen worden zu sein, berichteten.

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