Am 15.06.2015 fand die 9. öffentliche Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses (UA) statt. Geladen waren das ehemalige Mitglied des NSU-Bundestagsuntersuchungs-
ausschusses Hartfried Wolff (FDP), der Kriminaldirektor und Leiter der „BAO Bosporus“ Wolfgang Geier, der Leiter der Ermittlungsgruppe „Ceska“ Christian Hoppe und Dr. Walter Kimmel, der von 2005-2008 Leitender Oberstaatsanwalt in Nürnberg war.
Die Sitzung begann mit der Anhörung des FDP-Politikers Hartfried Wolff, der über die politische Relevanz von Untersuchungsausschüssen, Erkenntnisse des Bundestags-UA bezüglich Strukturen der extremen Rechten im In- und Ausland und für ihn wichtige politische Konsequenzen aus dem NSU-Komplex referierte. Wolff wies eingangs darauf hin, dass vor dem Hintergrund des aktuellen politischen Klimas eine konsequente Aufarbeitung des NSU-Komplexes notwendig sei und stellte fest, dass es dabei noch große Versäumnisse gebe.
Im Zuge der Darstellung von Strukturen der extremen Rechten betonte Wolff die Relevanz nationaler und internationaler Netzwerke für die Taten des NSU. Dabei stellte er heraus, dass die sogenannte „Einzeltäter-These“, die von der Bundesanwaltschaft vertreten wird, so nicht gänzlich haltbar sei. Die Strukturen von Neonazis wiesen auf ein Netzwerk hin. Bekannt sei, dass das alltägliche Leben der drei durch die Bereitstellung von Wohnungen, Krankenkassenkarten, Bahncards etc. unterstützt wurde. Bisher nicht zu erklärende Ziele würden ebenfalls auf ein Netzwerk hinweisen. Als für den NSU-Komplex relevante Netzwerke nannte Wolff die inzwischen verbotene HNG (Hilfsgemeinschaft nationaler Gefangener), Sturm 18 und das in Deutschland verbotene, europaweite Netzwerk Blood & Honour sowie die Hammerskins. Wolffs Einschätzung zufolge sei es wahrscheinlich, dass es weiterhin rechtsterroristische Netzwerke gäbe, die auch fähig seien zu agieren. Er betonte aber auch, dass noch viele Fragen, vor allem bezüglich Strukturen der extremen Rechten und der Finanzierung des NSU offen seien und er deswegen einen weiteren UA im Bundestag begrüßen würde.
Abschließend stellte Wolff die für ihn zentralen Konsequenzen aus dem NSU-Komplex und dem Versagen deutscher Sicherheitsbehörden dar. Er betonte u.a., dass in der BRD mehr für den Opferschutz getan sowie die Präventionsarbeit gegen rechts stärker gefördert werden müsse.
In der Befragung wurden insbesondere hessische Bezügen thematisiert. Hierbei bescheinigte Wolff den Ämtern in Hessen bei der Lieferung von Akten an den Bundestag relativ hohe Kooperationsbereitschaft. Bezüglich der Bezüge des NSU nach Hessen betonte er abermals, dass der NSU Teil eines Netzwerks war, das auch in Hessen aktiv sei. So sei vor allem Blood & Honour in Hessen relevant. Auf Nachfrage nach seiner Einschätzung der Involviertheit hessischer Behörden in den NSU-Komplex bezeichnete er Hessen als einen der drastischsten Fälle. Wolff zufolge sei es nicht zu erklären, warum bei den damaligen Ermittlungen kaum mit dem BKA oder der BAO Bosporus kooperiert worden sei.
Zu seinem Eindruck von Andreas Temme im Bundestags-UA sagte Wolff, dass Temme sich seine Aussage sehr zurechtgelegt habe und er ihm seine Opferrolle nicht abnehme.
Als zweiter Zeuge wurde Wolfgang Geier, der damalige Leiter der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) Bosporus, gehört. Geier gab fast wörtlich sein Statement aus dem Bundestags-UA und dem bayrischen UA wieder. Zu Beginn verteidigte Geier sich und seine Mitarbeiter gegen den Vorwurf, auf dem rechten Auge blind zu sein zu. Er und seine Mitarbeiter seien sehr bemüht gewesen, die Mordserie aufzuklären.
Anschließend erläuterte er sehr detailliert und nüchtern den zeitlichen Ablauf der Ermittlungen seit seiner Tätigkeit als Leiter der Kriminaldirektion in Nürnberg im Herbst 2003 (darunter die Einrichtung der EG Ceska beim BKA im Juni 2004 sowie die BAO Bosporus im Juli 2005). Weiterhin erklärte er ausführlich, welchen Arbeits-Hypothesen warum nachgegangen wurde. Bis zum fünften Mord sei von Organisierter Kriminalität ausgegangen worden. Ab Herbst 2005 sei diese These innerhalb der BAO hinterfragt worden. Infolge dessen wurde die erste Operative Fallanalyse (OFA) erstellt. Die zweite OFA ging von einem missionsgeleiteten Einzeltäter als Serienmörder aus. Weiterhin stellte Geier die zahlreichen Ermittlungsansätze dar, die jedoch alle keine Ergebnisse brachten. Seit dem Mord an Ismail Yaşar in Nürnberg im Juni 2005 seien die Ermittler von zwei Fahrradfahrern als Täter ausgegangen. Die Phantombilder, die im Zusammenhang mit dem Mord erstellt wurden, seien aufgrund der auffälligen Ähnlichkeit mit den Videoaufnahmen des Nagelbombenanschlags auf die Kölner Keupstraße verglichen worden. Nachdem eine biometrische Analyse der Bilder keine Ergebnisse brachte, wurde die Spur aufgegeben.
Die Frage, ob nach rassistischen Motiven (oder in der Sprache aller Beteiligten des UA: „Ausländerfeindlichkeit“) ermittelt wurde, verneinte Geier. Er sagte aber, retrospektiv falle einem dies wie Schuppen von den Augen. Der UA fragte zudem nach dem Vermerk des damaligen bayrischen Ministerpräsidenten Beckstein auf einer Zeitung („ausländerfeindlichen Hintergrund prüfen“). Dieser sei keiner der ermittelnden Behörden bekannt gewesen. Zusammenfassend rechtfertigte Geier in der Befragung die ausbleibenden Ermittlungen gegen rechts mit standardisierten Ermittlungsverfahren und fehlenden Hinweisen. Seine Befragung war außerdem von zynischen Kommentaren aller Parteien zu einem Streit über das Vorgehen im UA durchzogen. Während der Anhörung des Zeugen kam es erneut zu einer etwa zweistündigen Unterbrechung. Regierung und Opposition stritten unter Ausschluss der Öffentlichkeit über das Vorgehen im Ausschuss. Am Ende hatte die Regierung die Opposition überstimmt und achtete strikt auf die Einhaltung des Vorgehens, die Zeugen zunächst ausschließlich zu den Ermittlungen vor dem Mord an Halit Yozgat zu befragen.
Als nächster Zeuge wurde Christian Hoppe aus Wiesbaden befragt. Dieser war ab Januar 2006 Chefermittler im BKA und Teil der Besonderen Aufbauorganisation Ermittlungsgruppe (EG) Ceska. Nachdem nicht-öffentlich festgesetzt worden war, dass C. Hoppe ausschließlich bis zum Tag der Ermordung Halit Yozgats aussagen sollte (6. April 2006), verlas dieser sein kurzes Statement zu seinem Werdegang in der EG Ceska. Diese sei ausschließlich aus Mitarbeiter*innen aus den Abteilungen Organisierte Kriminalität, Waffenkriminalität und Menschenhandel zusammengesetzt gewesen. Die Gruppe sei zum einen der Hypothese nachgegangen, es existiere eine Gruppe der OK, zum anderen habe der Ermittlungsschwerpunkt auf der Waffenspur gelegen.
In der Befragung berichtete Hoppe von einem Treffen mit dem LfV Hessen vor dem Mord 2006. Dieses sei über familiäre Kontakte zustande gekommen, was kein normaler Dienstweg sei. Er begründete die Kontaktaufnahme mit der räumlichen Nähe in Wiesbaden, mangelnden Ansprechpartner*innen im BfV und dem Interesse, die Mordserie inhaltlich auf einem Bundestreffen aller Landesämter und des BfV zu platzieren. Das Treffen sei seiner Erinnerung nach nicht protokolliert worden. Nachfragen von Hermann Schaus (Die Linke) bezüglich dieses Treffens wurden von den Regierungsparteien lautstark als „unerhört“ bezeichnet. Die Frage, ob es Überlegungen in Richtung „extreme Rechte“ gegeben habe, verneinte Hoppe. Zur Erklärung gab er an, es habe weder Bekennerschreiben, noch objektive Anzeichen gegeben, um in diese Richtung zu ermitteln.
Als letzter Zeuge war Walter Kimmel geladen, der bis 2008 Leitender Oberstaatsanwalt in Nürnberg war und ab dem Mord an Abdurrahim Özüdogru am 13.06.2001 mit dem Fall zu tun hatte. Auch er stellt das bereits bekannte Ermittlungs- und Organisationsverfahren dar. Als Grund für die intensiven Ermittlungen in Richtung OK gab er an, dass es gewisse Spuren gegeben habe, die durch vertrauliche Hinweise und eigene Ermittlungen zustande gekommen waren. Konkret habe es Ermittlungen gegen drei Personen mit nicht-deutschen Namen gegeben.
Als Begründung, warum nicht in Richtung extreme Rechte ermittelt wurde, gab auch Kimmel an, dass es bis auf die Migrationsgeschichte der Opfer keinerlei Hinweise gegeben hätte. Nach der ersten OFA seien jedoch 610 Personen aus dem rechten Spektrum im Raum Nürnberg überprüft worden – allerdings ohne Ergebnis, weshalb nicht weiter in diese Richtung ermittelt worden sei. Jürgen Frömmrich (Bündnis 90/Die Grünen) fragte hierzu nach, warum immer gesagt werde, es hätte keine Hinweise in Richtung rechts gegeben – wenn doch 610 Personen überprüft worden seien. Die Frage, warum an der These der OK festgehalten wurde, obwohl es auch dort keine konkreten Hinweise gegeben habe und die These extreme Rechte aufgegeben wurde, blieb offen.