Bericht zur 16. öffentlichen Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag (18.12.2015)

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Für die öffentliche Sitzung des hessischen NSU-Untersuchungsausschusses waren drei hochrangige Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfVH) geladen. Lutz Irrgang war zum Zeitpunkt des Mordes an Halit Yozgat im April 2006 Direktor des LfVH, Iris Pilling Referatsleiterin Beschaffung und Temmes direkte Vorgesetzte. Irrgang wurde bereits im Bundesuntersuchungsausschuss und im Münchener Prozess angehört, Pilling dagegen musste erstmalig öffentlich zum NSU-Komplex aussagen.

Befragung Irrgang

In seiner Eingangeserklärung betonte der vierundsiebzigjährige und seiner Auskunft nach gesundheitlich angeschlagenen Irrgang, ihm seien viele der mittlerweile zehn Jahre zurückliegenden Sachverhalte nicht mehr präsent. Das Jahr 2006 habe er vor allem noch deshalb lebhaft in Erinnerung, weil er im letzten halben Jahr seiner Dienstzeit Opfer eines gewaltsamen Überfalls auf seine Person gewesen sei, der ihm stark zugesetzt habe. Er habe sich jedoch wegen der Fußball-Weltmeisterschaft gegen eine vorzeitige Beendigung seines Dienstes entschieden. Auch als Irrgang in der späteren Fragerunde nach einer allgemeinen Gefahreneinschätzung im Jahr 2006 gefragt wurde führte er ein Fußballspiel gegen den Iran als brisant an, eine rechtsextreme Gefahrenlage sei damals nicht zu erkennen gewesen.

Nach seiner Rolle im Streit um die Aussagegenehmigung für Temmes V-Leute zwischen den polizeilichen Ermittlern und dem LfVH gefragt, gab Irrgang an, eine rechte Quelle habe für die Entscheidung keine Rolle gespielt. Mehrfach betonte er in diesem Zusammenhang, dass zuverlässige Quellen sehr selten und wertvoll seien, und der Quellenschutz daher Priorität habe. Der Fall habe für ihn „im Obskuren“ gelegen und es sei bis heute „nichts dahinter“. Auf die Frage, ob Temme sich dienstlich im Internetcafé aufgehalten habe, antwortete er: „Das weiß ich nicht.“

Geäußerten Zweifeln daran, dass das LfVH die Mordvorwürfe an Temme ernstgenommen habe, hielt Irrgang die dienstrechtlichen Schritte entgegen, die das Landesamt unternommen habe und auf Temmes spätere Suspendierung. Insgesamt reagierte er gereizt auf Vorhaltungen, die Temmes Person betrafen, und beschwerte sich, dieser hätte sich für die Situation, in die er das LfVH gebracht habe entschuldigen müssen, was er nie getan habe. Dass Temme sich nach dem Mord nicht bei der Polizei gemeldet habe bezeichnete er mehrfach als „peinlich“ für seine Behörde.

Zum Ende der Anhörung wurde Irrgang eine Handschriftliche Notiz vorgehalten, in der er sich auf

das Täterprofil der zweiten operativen Fallanalyse des BKA bezieht, das einen rechtsextremen Hintergrund der Mordserie für möglich hält. Er habe den Fall nicht für befriedigend angeschlossen gehalten, und dem Amt seine Sicht überliefern wollen, sagte Irrgang. Das Innenministerium habe zuvor angeordnet, nicht weiter an dem Fall zu arbeiten.

Befragung Pilling

Auch Iris Pilling, die auf eine eigene Stellungnahme zu Beginn verzichtete, gab auf Nachfrage wie Irrgang an, keine Veränderungen in der rechtsradikalen Szene Hessens im Jahr 2006 festgestellt zu haben. Die Mordserie sei ihr durch ein informelles Gespräch mit zwei Beamten des BKA bekannt geworden, das durch einen persönlichen Kontakt zustande gekommen sei. Dieses Gespräch sei der Anlass für eine Mail gewesen, die sie im März 2006 an die V-Mann-Führer ihrer Abteilung geschickt hatte, mit dem Auftrag sich wegen der Morde bei ihren Informanten umzuhören. Pilling zog dieses Gespräch in der Vernehmung mehrfach als Begründung heran, warum die Mordserie nicht mit einem rechtsradikalen Hintergrund in Verbindung gebracht worden sei. Die Beamten des BKA hätten so vehement die These vertreten die Täter seien im Bereich der Organisierten Kriminalität und der Ausländerkriminalität zu suchen, dass sie keinen Anlass gesehen habe, an der Darstellung der Polizei zu zweifeln. An die Notiz Irrgangs zur alternativen Täterhypothese erinnerte sie sich nicht.

Pilling erklärte zu Temmes Aufenthalt im Internetcafé von Halit Yozgat, dass er dort definitiv nicht hätte sein dürfen, weil das in der Nähe der Dienststelle oder des Heimweges aus operativen Gründen untersagt sei. Er habe jedoch keinen Auftrag gehabt, sich dienstlich dort aufzuhalten.

Aus einem im Ausschuss vorgespielten Telefonat zwischen Temme und seiner Vorgesetzten, das im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen gegen Temme aufgezeichnet worden war, hat Pilling ihm dringend dazu geraten, sich anwaltlich vertreten zu lassen. In einem weiteren Telefonat, das zu hören war, verabreteten sich Pilling und Temme zu einem Treffen auf der Autobahnraststätte, das nicht erst in der Ausschusssitzung zahlreiche Fragen aufwarf. Auch dieses Treffen war von ermittelnden Polizeibeamten observiert worden, die aber den Inhalt des Gespräches nicht erfasst haben. Nach Pillings Aussage sei der Grund für das ungewöhnliche Treffen lediglich gewesen, dass sich die Raststätte auf dem Weg zur Kasseler Außenstelle des LfVH befinde, die Temme wegen seiner Suspendierung ja nicht hätte aufsuchen dürfen. Bei dem Gespräch sei es um „menschliche“ Dinge gegangen, in dem sie sich nach Temmes persönlichem Befinden habe erkundigen wollen, was sie als Grundzug ihres Führungsstils verstehe. Pilling bestätigte, zusammen mit dem Geheimschutzbeauftragten Gerald Hess Einsicht in die Ermittlungsakten gegen Temme genommen zu haben, während er noch unter Mordverdacht stand. Dies sei einmalig und aus Gründen des Quellenschutzes geschehen.

Temmes V-Mann Benjamin Gärtner war laut Pilling, kein ergiebiger Informant. Deshalb sei er von der mittlerweile verbotenen Kameradschaft „Sturm 18“ abgezogen und auf die „Deutsche Partei“ „umgesteuert“ worden. Dies sei ein geläufiges Verfahren, wenn die V-Person zu einer anderen Organisation eventuell ergiebigere Informationen liefern könne. Im Fall Gärtner ist diese „Umsteuerung“ erstaunlich, weil die Deutsche Partei nicht mehr als eine Randerscheinung war. Laut eines im Ausschuss zitierten Treffbericht Temmes, bestand „Sturm 18“ nach Gärtners Angaben aus ca. 30 Personen, deren Führungspersonen Michel F. und Stanley R. gewesen sein. Nach Pillings Einschätzung habe Gärtner, der über seinen Stiefbruder in die Szene gelangt war, die Personen des B&H Umfeldes in Nordhessen zwar gekannt, sei aber kein Mitglied gewesen. Auch Michel F. , der noch 2006 zusammen mit Gärtner straffällig geworden ist, sei letztlich nicht relevant, da er nach eigenen Angaben 2006 aus der Naziszene ausgestiegen sei und sich dem Rockermilieu angeschlossen habe. In der Befragung wurde deutlich, dass Pilling diese Aussage ohne Hinterfragen als gegeben angenommen hatte. F., der laut Pilling in der Naziszene den Spitznamen „Leihgabe“ getragen habe, hat selbst dagegen 2012 ausgesagt, er habe bis 2011 Kontakte in die Nazisszene gehabt. Außerdem laufe derzeit ein Strafverfahren wegen eines möglichen Waffendeals. Die B&H Vernetzung habe, so Pilling, keinen Grund für eine höhere Gefahreneinschätzung geboten. In Nordhessen sei die Organisation vor allem als Musik-Vereinigung aktiv gewesen. Gewaltbereiter Rechtsextremismus sei 2006 allenfalls im Bezug auf rechte Hooligans während der Weltmeisterschaft relevant gewesen. Dem Rechtsterroristen Manfred Roeder wies Pillig eine wichtige Rolle für die Politisierung und Radikalisierung junger Nazis zu, eine bedeutendere Rolle für die Organisation habe er aber nicht gespielt.

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