„Wir wissen alle, dass dieser Mann lügt“

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Bild: Andreas Temme am 11.Mai im PUA; Bildcredit: peter-juelich.com

Von Sarah Müller

Der ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme steht im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die erste Anhörung Temmes zeigte jedoch einmal mehr, dass von seinen Aussagen kaum ein Erkenntnisgewinn zum Mord an Halit Yozgat zu erwarten ist.

Der damalige Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfVH) Andreas Temme hielt sich unbestritten in großer zeitlicher Nähe zur Tat am Tatort auf, als Halit Yozgat am 6. April 2006 in seinem Internetcafé in Kassel erschossen wurde. Erst über die Verbindungsdaten des genutzten Computers hatten die ermittelnden Behörden Temme zwei Wochen nach dem Mord als den fehlenden sechsten Zeugen identifiziert, der sich nicht selbstständig auf einen Zeugenaufruf der Polizei gemeldet hatte. Damit stand er zunächst als Beschuldigter unter Mordverdacht. Im Rahmen der Ermittlungen wurden in seinem Elternhaus Abschriften aus „Mein Kampf“ und ein Buch über Serienmörder sowie Waffen gefunden, die er als Sportschütze legal besitzen durfte. Weil ihm keine Beteiligung an der Tat nachgewiesen werden konnte, wurde das Verfahren im Januar 2007 eingestellt. Temme hält bis heute an seiner Aussage fest, er habe sich zufällig und privat im Internetcafé aufgehalten und von dem Mord an Halit Yozgat nichts mitbekommen.

Alles Zufall
Der in Wiesbaden tagende Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) hatte Andreas Temme kurzfristig zum Auftakt der ZeugInnenbefragungen vorgeladen, nachdem im Februar Abhörprotokolle eines Telefongesprächs zwischen Temme und seinem zuständigen Geheimschutzbeauftragten, Gerald Hess, durch die Presse in die Öffentlichkeit geraten waren. Die Befragung von Temme und Hess im PUA, am 11. Mai 2015, fand ausschließlich auf der Grundlage dieses aufgezeichneten Telefongespräches statt, da der Ausschuss noch keine Einsicht in die entsprechenden Akten hatte. Im Gespräch findet sich auch der vieldiskutierte Ausspruch von Hess, „Ich sag’ ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, bitte nicht vorbeifahren“, der erneut die Frage aufwarf, ob Temme vor der Tat etwas über den geplanten Mord gewusst hat. Mit dem Gespräch konfrontiert verharrte er – wenig überraschend – in seiner mittlerweile erprobten Haltung, er sei Opfer einer unglücklichen Verkettung von Zufällen geworden.
Temmes Begründung für seinen Aufenthalt im Internetcafé, er habe vor seiner Frau verheimlichen wollen, dass er in einem Flirtportal aktiv war, bleibt nicht zuletzt unschlüssig, weil er nachweislich auch mit seinem privaten Computer in dem Portal gechattet hatte. Seinen Account kündigte er sechs Tage nach dem Mord. Auch dass der in Observation geschulte Geheimdienstler und geübte Sportschütze die Schüsse im Café nicht wahrgenommen haben will, ist wenig glaubwürdig. Die naheliegende Vermutung, Temme könnte sich dienstlich am Tatort aufgehalten haben, lässt sich nicht belegen. Ein Zusammenhang von Temmes Anwesenheit am Tatort zu seinen beruflichen Aufgaben als V-Mann-Führer beim LfVH stellt sich jedoch über zwei Telefonate her, die er am Tattag mit seiner rechten Quelle Benjamin Gärtner – Deckname „Gemüse“ – führte. Gärtner rief am Mittag des Tattages auf Temmes Handy an, der ihn vor Dienstschluss zurückrief. Das zweite Gespräch dauerte elf Minuten. – ungewöhnlich lange für eine Verabredung zur monatlichen Geldübergabe, was laut Temme der gesamte Inhalt des Telefonates war. Unmittelbar nachdem der Mordverdacht auf Temme fiel, bemühte sich das LfVH redlich um Temmes Person. Er wurde zweimal ins Landesamt nach Wiesbaden bestellt und verabredete sich mit seiner direkten Vorgesetzten, Iris Pilling, zu einem konspirativen Treffen auf einer Autobahnraststätte. Alles angeblich nur, um über sein privates Befinden und seine anstehende Suspendierung zu sprechen, wie Temme versichert.

Quellenschutz vor Aufklärung
Temme gibt in seinen Aussagen an, Gärtner habe als Quelle allgemein keinen sonderlich hohen Informationswert gehabt. Damit schließe sich aus, dass Gärtner ihm Hinweise auf das Tatgeschehen gegeben habe. Es stellt sich die Frage, was dann das LfVH dazu bewogen hat, dem Quellenschutz eine so hohe Priorität einzuräumen, dass die Mordermittlungen der Polizei im April 2006 massiv behindert wurden. Die Vernehmung Gärtners durch die ermittelnde Polizeibehörde wurde vom damaligen Innenminister und heutigem Ministerpräsidenten, Volker Bouffier, untersagt. Dieser Entscheidung lag nach seiner Erklärung im Bundesuntersuchungsausschuss 2012 die Erwägung zugrunde, ob durch eine Zeugenbefragung des V-Manns die „Sicherheitsinteressen des Landes Hessen und der Bundesrepublik Deutschland unvertretbar beeinträchtigt würden.“ Auch die Aussagegenehmigung Temmes unterliegt der Einschränkung, dass er zu seinen Quellen keine Angaben machen darf.
Im LfVH genießt der Schutz der eigenen Mitarbeiter sowie der Quellenschutz der V-Leute die höchste Priorität. Und vom seinem ehemaligen Mitarbeiter Andreas Temme ist kein Beitrag zur Aufklärung des Mordes an Halit Yozgat zu erwarten. Weder in den Untersuchungsausschüssen noch im NSU-Prozess hatte er bisher für seine unglaubwürdigen Erinnerungslücken Konsequenzen zu befürchten, weil die Sicherheitsbehörden ihm mit der Unterstützung der hessischen Landesregierung den Rücken stärken. Obwohl Temme durch seine weiter ungeklärte Anwesenheit am Tatort des letzten rassistischen Mordes der sogenannten Ceska-Serie eine zentrale Figur im NSU-Komplex bleibt, ist kaum zu erwarten, dass er die volle Wahrheit über seine Rolle aussagen wird. Ismail Yozgat, der Vater des Mordopfers Halit Yozgat, hat dazu nach einer Aussage Temmes im NSU-Prozess in München alles Wichtige gesagt: „Wir wissen alle, dass dieser Mann lügt.“

Dieser Artikel erschien in: Der Rechte Rand – Magazin von und für AntifaschistInnen, Nr. 156, September/Oktober 2015, Hannover

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