Bericht zur zweiten öffentlichen Sitzung des Untersuchungssausschusses (23. Februar 2015)

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Am 23. Februar 2015 hat die zweite Sitzung des hessischen NSU-Untersuchungsausschuss in Wiesbaden stattgefunden. Die Expert_innenbefragungen zum Thema „Rechtsextremismus“ und zum „Begriff des Rechtsextremismus“ sind jetzt vorbei. In den nächsten Wochen wird es um „Gruppierungen in Hessen“ und den „Umbau der Sicherheitsbehörden“ gehen.

Die bisherige Arbeit des Untersuchungssausschusses weist eine große Schwäche auf: Die gesellschaftlichen Ursachen des Rechtsextremismus, die Frage, welche gesellschaftlichen Strukturen zu Rassismus, Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit führen, wurden nicht erörtert und nicht beantwortet. Lediglich Hajo Funke ist in seinem Vortrag kurz auf die sozialen Strukturen der Nachwendezeit eingegangen. Es hätte aber weiterer soziologischer, sozialpsychologischer und politikwissenschaftlicher Erkenntnisse benötigt, um tatsächliche Konsequenzen aus der NSU-Mordserie und der Radikalisierung der rechten Szene nach 1990 ziehen zu können.

Gegenüber dem Freien Sender Kombinat Hamburg (FSK) haben wir unsere Einschätzung der bisherigen Sitzungen des U-Ausschusses sowie zu den aktuellen Geschehnissen infolge des WELT-Artikels geäußert:
http://einprozess.blogsport.eu/2015/03/01/sendung-vom-28-02-2015/

Anhörung von Jürgen Leimbach
Eröffnet wurde die Sitzung am 23.02 um 10 Uhr in Sitzungssaal 301P mit der Anhörung von Jürgen Leimbach, leitender Regierungsbeamter für Inlandsextremismus beim hessischen Verfassungsschutz. Er sollte Kenntnisse über die rechte Szene in Hessen zwischen 2005-2007 liefern. Auffällig war, dass Leimbach in seinem kurzen Vortrag fast nur auf den Zustand der hessischen NPD eingegangen ist. Da die NPD bei den Landtags- und Kommunalwahlen, bis auf Erfolge in wenigen Landkreisen und Gemeinden, nur wenige Stimmen in Hessen erhalten hat, schlussfolgerte Leimbach, dass das rechte Potential in Hessen nicht besonders groß sei. Die Abgeordneten des Untersuchungsausschusses befragten Leimbach in der Folge vor allem hinsichtlich der Vernetzung von hessischen Neonazis und Neonazis aus anderen Bundesländern, den Strukturen freier Kameradschaften in Hessen (Freie Kräfte Schwalm-Eder, Aktionsbüro Rhein-Neckar, Blood and Honour in Kassel) und zum Einsatz von V-Leuten in Freien Kameradschaften und der rechtsnationalen Deutschen Partei. Bei allen diesen Fragen verweigerte Leimbach die Aussage. Er erklärte, er dürfe nur über offen verwertbare Informationen Auskünfte geben. Über die operative Arbeit des Verfassungsschutzes und militante Neonazi-Strukturen dürfe er nicht gegenüber dem Ausschuss sprechen. Die Abgeordneten, insbesondere von SPD, Linkspartei und Grünen, wirkten bei der Befragung von Leimbach zusehends genervt. Gerade vor dem Hintergrund des WELT-Artikels, der eine Verstrickung des Verfassungsschutzes in den Mord in Kassel nahelegt, hatten sich die Abgeordneten von den Aussagen des Verfassungsschützers Leimbach wohl mehr erwartet. Erstaunlich war zudem Leimbachs Behauptung, es gebe in Nordhessen keine großen und festen Strukturen der rechten Szene, obschon die dort recherchierenden Journalist_innen gerade das Gegenteil hervorheben.

Leimbach ging zudem auf die große Bedeutung der Musikszene für rechtsradikale Strukturen ein. Diese seien oft der erste Berührungspunkt von Jugendlichen mit Neonazis. Er listete mehrere Konzerte von Nazi-Bands im Zeitraum 2005-2007 auf. Nach seiner Ansicht hätten die Jugendlichen vorrangig Interesse an der Musik und dem auf Konzerten gepflegten Alkoholkonsum, deshalb würden viele Personen aus diesen Strukturen herauswachsen und sich nicht mehr in der rechtsradikalen Szene verorten. Es ist besorgniserregend, wenn der Verfassungsschutz die politische und ideologische Dimension von deutschen Neonazis verharmlost.

Anhörung Joachim Tornau
Als letztes hörte der Ausschuss Joachim Tornau an, der seit 2001 als freier Journalist in Kassel, oft mit seinem Kollegen Carsten Meyer, über die dortige rechte Szene recherchiert. Tornau teilte seinen Vortrag in drei Abschnitte, beginnend mit einem fundierten Überblick über die rechte Szene, Personen und Strukturen in Nordhessen, über den Umgang der Gesellschaft, Justiz und Sicherheitsbehörden mit der rechten Szene und dem Stand der Aufklärung sowie offenen Fragen bezüglich des Kasseler Mordes.

Tornau erklärte am Anfang, dass Kassel ein typischer Landstrich bezüglich der rechten Szene sei. Neonazi-Strukturen seien in Deutschland traurige Realität. Die NPD nahm in seinem Vortrag eine untergeordnete Rolle ein, da er diese nicht als dominierende Struktur in Hessen ansieht. Vielmehr erläuterte er, dass es gerade in Nordhessen starke und kontinuierliche Strukturen von Neonazis gebe. Insbesondere die Freien Kräfte Schwalm-Eder seien eine besonders gewalttätige Gruppierung, die bereits in der Vergangenheit schwere Gewaltdelikte verübte. Auch Sturm 18 Cassel sei eine wichtige Gruppierung autonomer Nationalisten.

Tornau verwies, wie auch schon zuvor Andrea Röpke, auf enge Verflechtungen der rechten Szenen mit Rockern, Hooligans und aktuell KAGIDA. Als einen wichtigen Verbindungspunkt rechter Strukturen hob er den Hof von Manfred Roeder hervor, auf dem rechte Schulungen durchgeführt wurden. Dort waren zugleich Mitglieder des Thüringer Heimatschutzes und der Freien Kräfte Schwalm-Eder anwesend.

Die Deutsche Partei, auf die Temmes V-Mann Benjamin Gärtner angeblich angesetzt war, hätte nach Tornaus Meinung in Hessen keine Rolle gespielt. Auch Leimbach hatte die Rolle der Deutschen Partei zwar nicht hoch bewertet, aber der Partei die Funktion einer Sammlungsbewegung verschiedener rechter Spektren zugesprochen. Tornau verwies aber darauf, dass die Deutsche Partei vollkommen unbedeutend gewesen sei.

Tornaus Einschätzung zu der Rolle von Benjamin Gärtner weicht von den Aussagen Funkes und Röpkes ab. Seiner Meinung nach hätte Gärtner in der rechten Szene eher eine randständige Rolle eingenommen. Im NSU-Prozess wäre aber deutlich geworden, dass Gärtner womöglich mehr wusste. Tornau bemerkte aber, dass er nicht genau wisse, wie weit Gärtner in Strukturen eingebunden war.

Insgesamt zeigte Tornaus Anhörung, dass die rechte Szene stark vernetzt ist und viele, unterschiedliche Strukturen existieren. Am Ende ging er noch auf den Umgang der Gesellschaft mit Neonazis und die Ermittlungen der Sicherheitsbehörden ein. Tornau bemerkte, dass eine „Wagenburgmentalität“ herrsche, wenn man Personen auf die rechte Szene anspreche. Man verleugne das Thema. Die Ermittlungserfolge der Sicherheitsbehörden schätzte er als vergleichsweise gering ein. Viel wichtiger sei eine intensive und analytische Recherchearbeit von Journalist_innen und zivilgesellschaftlichen Initiativen.

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