In der siebten öffentlichen Sitzung wurde der Polizeisachverständige Thomas Feltes befragt. Dieser kritisierte die Arbeit des Ausschusses, weil ihm für seine Aussage keine Akteneinsicht gewährt wurde und er so nicht richtig arbeiten könne. Ein Vertreter der Landesregierung versuchte bei dieser Kritik den Ausschuss zu unterbrechen, was der Sachverständige als Angst einflößend empfand. In seiner Befragung kritisierte er die Polizei wegen ihres Umgang mit Angehörigen und anderen Fehlern scharf und bemängelte eine falsche Fehlerkultur in der Polizei.
Auf Antrag der Fraktionen von SPD, LINKE, und FDP wurde der Sachverständige Prof. Dr. Thomas Feltes im Untersuchungsausschuss angehört. Feltes ist Strafverteidiger und regelmäßiger Sachverständigengutachter für polizeiliche Maßnahmen. Wie die drei vorangegangenen Gutachter:innen wurde er geladen um Auskunft zu geben über u.a. die Einsatztaktik der Polizei in der Tatnacht des 19. Februar 2020.
Feltes machte gleich zu Beginn seiner Ausführungen deutlich, dass er Probleme mit der Arbeitsweise des Untersuchungsausschusses hat: Ihm sei im Anschreiben mitgeteilt worden, er solle u.a. Probleme bei den Behörden untersuchen. Man könne aber Strukturen nur mit Anhaltspunkten untersuchen, nicht generell. Wirklich untersuchen könne er dies nur, wenn er auch Einsicht in Abläufe habe. Er habe aber keine vollständige Einsicht in die Akten bekommen, lediglich drei Pressemitteilungen von Behörden. Das sei schade, so Feltes. „Was Sie mir vorgelegt haben, eignet sich nur bedingt“. Er habe es trotzdem tun müssen, da er den Auftrag nicht ablehnen konnte. Auf eine der ihm als Material vorliegenden Pressemitteilungen der StA Hanau zur Einstellungsverfügung bezogen äußerte er, dass davon auszugehen sei, dass in dieser die Ausführungen an der Begründung ausgerichtet seien anstatt umgekehrt.
Als Feltes weiter vorfahren wollte mit seiner Begründung, warum die ihm vom Ausschuss zur Verfügung gestellten Pressemitteilungen nicht für ein Gutachten ausreichten, rief ein Vertreter der hessischen Landesregierung in den Saal, dass er beantrage, die Sitzung zu unterbrechen. Der Vertreter der hessischen Landesregierung hat neben den Mitgliedern einen Sitz im Ausschuss. Der Ausschussvorsitzende Marius Weiß wies ihn darauf hin, dass er als Regierungsvertreter nicht das Recht dazu habe. Dies dürften lediglich die regulären Mitglieder, er dürfe nur zuhören. Daraufhin ergriff der CDU-Abgeordnete Müller das Wort. „Dann übernehme ich“ und stellte stellvertretend für seinen Parteifreund den Antrag, die Sitzung für eine interne Abstimmung zu unterbrechen. Feltes hatte, als es auf Wunsch der Landesregierung in eine kurze Pause ging, nicht einmal zehn Minuten gesprochen.
Nach dieser kurzen Pause für interne Abstimmungen wies der der Ausschussvorsitzende Marius Weiß Feltes zurecht: Er dürfe sich nur zu den Themen Einsatztaktik, Krisenmanagement u.Ä. äußern. Kritik an der Arbeitsweise der Ausschusses stehe ihm als Sachverständigem nicht zu. Auch mit der ihm vorliegenden Begründung der Einstellungsverfügung der StA Hanau dürfe er sich nicht befassen, da diese von der Generalbundesanwaltschaft (GBA) überprüft werde. Er solle sich nur abstrakt und theoretisch zu den Themen äußern. Dies sei nach Ansicht des Ausschusses möglich, so Weiß. Feltes entgegnete, unter diesen Umständen könne er nicht tun, was von ihm verlangt werde. Ohne Aktenkenntnisse wissenschaftliche Ausführungen zu machen könne er nicht. Er beließ es daraufhin bei dem bereits getätigteen Anfang seines Eingangsstatement und bat darum, dass die Abgeordneten ihm direkt Fragen stellten.
Befragung von Thomas Feltes
Weiß fragte Feltes, wie polizeiliche Abläufe grundsätzlich bei solchen Einsätzen wie am 19. Februar seien. Feltes sprach erneut davon, ohne die Einsatzpläne dies nur schwer beurteilen zu können, führte aber ein aus seiner Sicht „grundlegendes Problem“ aus: Es gebe zwar entsprechende Einsatzpläne, wie in solchen Situationen zu reagieren sei, aber hier gehe es um Situationen, in denen oft innerhalb von Minuten oder Sekunden Entscheidungen getroffen werden müssten. Hier müsste aufgrund von spontaner und situativer Lage entschieden werden, was den Polizisten vor 2-3 Jahren vermittelt wurde. Bei diesem „schnellen Denken“, wie er es nannte, würden Konsequenzen nicht immer mitgedacht und Entscheidungen nicht immer reflektiert werden. Solche Einsätze ereigneten sich so gut wie nie, es sei extrem schwierig, Menschen darauf vorzubereiten. Aber es sei eine „Frage des Willens und Wollens“. „Das strukturelle Versagen, was dahinter steckt, liegt immer darin, dass die Vorbereitung auf solche Situationen mangelhaft ist“, so Feltes.
Weiß und anschließend andere Abgeordnete fragten Feltes, welche Vorgaben es gäbe zum Umgang mit Verletzten und Angehörigen. Feltes sagte, die Eigensicherung habe grundsätzlich Vorrang. Sich um sekundäre Opfer zu kümmern sei aber auch eine ganz wichtige Aufgabe der Polizei, auch wenn es nicht in das Bild einen Polizeibeamten bzw. einer Polizeibeamtin passe. Polizisten seien keine Sozialarbeiter, sei da oft zu hören. Aber natürlich müsse die Polizei auch immer wieder sozialarbeiterisch tätig sein. Die Polizei dürfe nicht darauf vertrauen, dass „irgendwo im Hintergrund eine Krisenintervention bereit steht, sondern muss es auch selbst machen“ wenn keine andere Betreuung zur Verfügung stehe. Eine sekundäre Viktimisierung der Opfer unter allen Umständen zu vermeiden sei eine ureigene Aufgabe der Polizei, betonte Feltes immer wieder. Hierbei sehe er Fehler bei der Polizei Hanau.
Die Perspektive der Opfer sei enorm wichtig, betonte er auf Nachfrage der GRÜNEN-Abgeordneten Grunemann. 90 % aller Straftaten würden durch Hinweise aus der Bevölkerung gelöst. Dass einige Angehörige erst fünf Tage über den Verbleib ihrer toten Angehörigen erfuhren nannte Feltes „weder nachvollziehbar noch entschuldbar“.
Der CDU-Abgeordnete Müller sagte an Feltes gerichtet, er teile dessen Ausführungen zur Gefahr einer sekundären Viktimisierung. Aber er frage sich, ob die Betreuung von Angehörigen wirklich primär sei, wenn in den ersten paar Minuten des Einsatzes noch nicht klar sei, ob der Täter noch unterwegs sei. Feltes blieb bei seiner Aussage, dass es trotzdem Aufgabe der Polizei sei, sich um Angehörige zu kümmern, wenn keine anderen Kräfte hierzu vor Ort seien. Wenn es einen konkreten Hinweis gebe, wo der Täter sich befinde, dann müsse die Einsatzleitung Kräfte dahin schicken. Aber nicht jeder Polizist müsse mit gezückter Waffe dem Täter hinterherfahren, so Feltes, und weiter: „Wenn die keine konkreten Ansatzpunkte haben wohin zu fahren, was zum Teufel sollen die denn machen? Die sollen sich um die Angehörigen kümmern!“.
Feltes gab weiter an, er sehe in der Einsatznacht Mängel bei der Polizeiarbeit, die er sich nicht erklären könne. Der Tatort sei ein entscheidendes Kriterium, um den Fall aufzuklären. Zur Sicherung gebe es klare Standarsd, die seiner Ansicht nach nicht eingehalten worden seien. Ein Beispiel hierfür sei, wie der Tatort in der Bar behandelt worden sei. Er habe dem Ausschuss das Gutachten von Forensic Arcitecture zum verschlossenen Notausgang vorgelegt. Die hätten das getan, was in seinen Augen die Polizei hätte tun sollen.
Der Abgeordnete Müller fragte ihn, was er konkret meine, wenn er auf den Einsatz bezogen von polizeilichem Fehlverhalten spreche. Feltes bezog sich auf mangelndes Wissen wegen fehlender Unterlagen zur Beurteilung, aber die fehlende Weiterleitung der Notrufe sei ein Problem. Eine Weiterleitung hätte man einreichten können. Das sei kein singuläres Problem der Polizei in Hanau. Generell gelte bei der Polizei oft, wenn hierdurch kein Leidensdruck entstehe, muss die Polizei es nicht verantworten, Mittel hierfür bereit zu stellen. Auf die Frage des LINKEN-Abgeordneten Schauss, ob es Standard sei, Anrufer beim Notruf auf deren Eigensicherung hinzuweisen antwortete Feltes, dass es zwar nicht Standard sei, aber dazu gehöre. Man hätte auch weitere Polizisten zum Notruf dazu ziehen können.
Zwischen dem CDU-Abgeordneten Müller und dem Sachverständigen Feltes wurde zwischendurch hitzig: Müller rief in Richtung Feltes „Hören Sie auf“: Feltes hätte von polizeilichem Fehlverhalten beim Einsatz selbst gesprochen, nicht nur beim Umgang mit Opfern und mit dem Notruf, und fragte Feltes, wovon er dies ableite. Feltes antwortete, sie beide hätten ein unterschiedliches Verständnis von Einsatzgeschehen. Für ihn gehöre auch das drum herum dazu. Auf die Nachfrage des FDP-Abgeordneten Hahn, wo er konkret in der Tatnacht in Hanau Fehler passiert seien, verwies Feltes erneut auf den fehlenden Aktenzugang: „Da hätten sie mir sechs Monate Zeit geben und Akteneinsicht gewähren sollen: Das haben Sie nicht getan, also kann ich dazu nichts sagen“.
Auf die Frage zum aufgehaltenen Rettungswagen und ob es Regelungen gebe, wie lange die Opfer da bleiben sollten, erklärte Feltes, das würden die Rettungskräfte entscheiden. Wenn der Abtransport verletzter Personen durch die Polizei unterbunden worden wäre, halte er dies für sehr problematisch. Möglicherweise sei dies auch strafrechtlich relevant. Auf die Nachfrage des GRÜNEN-Abgeordneten Burcu, ob die Entscheidung vielleicht getroffen worden wäre, um die Rettungskräfte zu schützen, sagte Feltes, er wisse nicht was das für ein Schutz sein sollte, wenn man jemanden daran hindert, den Tatort zu verlassen. Der beste Schutz sei, nicht mehr am Tatort zu sein.
Auf Nachfrage der SPD sagte der Sachverständige aus, dass er in einer möglichen Vorverurteilung der Opfer Parallelen zum NSU sehe. Einige polizeiliche Maßnahmen könne man nur erklären, dass es einen Tatverdacht gegen das sogenannte „migrantische Millieu“ gegeben habe. Dass einem Opfer zum Beispiel das Handy abgenommen wurde sei nur möglich, wenn es einen Tatverdacht gegeben habe. Wenn noch dazu Daten darauf gelöscht worden seien sei dies ein klarer Verstoß. Er verstehe dies nicht. Dass ein einzelner Beamter Fehler mach passiere, aber es gebe schließlich Vorgesetzte, die auch darauf schauen würden.
Zwischendurch in der Befragung kritisierte Feltes den Umgang mit ihm im Ausschuss und richtete an den Vertreter der Landesregierung, der die Sitzung wegen Feltes Aussagen unterbrechen wollte: „Sie haben mir zu Beginn dieser Sitzung Angst gemacht.“
Insbesondere die SPD fragte umfangreich zur Fehlerkultur in der Polizei und einer möglichen „Qualitätssicherung“. Feltes gab an, dass viele Studien zeigen würden, dass es bei der Polizei keine Fehlerkultur gebe. In der Polizei gelte weiterhin die Philosophie, man dürfe keine Fehler machen und deswegen erst recht keine zugeben. Dies sei falsch, jeder mache Fehler. Die Politik sieht Feltes in der Verantwortung, dies zu ändern. Er könne selbst von seiner Zeit in der Chefrunde der Polizei in NRW berichten, dass es dort Strategien gebe, um Fehler zu vertuschen. Teilweise geschehe dies auf politischen Druck, teilweise wegen angenommenen politischen Druck. Feltes plädierte für eine andere Fehlerkultur in der Polizei: Beamten, die Fehler machten und dazu ständen, sollte dies positiv zurück gemeldet werden. „Wichtig wäre die Wertschätzung der Politik für diese Einstellung. Jemanden, der Fehler gesteht, den strafen wir nicht ab, sondern den loben wir und Beamte die Fehler benennen, die unterstützen wir. Das hat übrigens nicht mit Parteizugehörigkeit zu tun.“ Dies gelte für Regelüberschreitungen unterhalb der Strafschwelle. Maßnahmen wie Supervision und Coaching seien hier mittge- bis langfristig wirksamer als Sanktionen. Auf den Anschlag in Hanau bezogen plädierte Feltes dafür, die Polizei sollte hier gegenüber den Angehörigen Transparenz zeigen. Am Ende sollte sie eine Liste machen: Hier seien Fehler gemacht worden, hier vielleicht und hier nicht. Dies sei wichtig für demokratische Institutionen.
Auf Rassismus in der Polizei angesprochen erklärte Feltes, dass die Polizei kein Spiegelbild der Gesellschaft sei. Insbesondere „Biodeutsche“ und Menschen aus der Mittelschicht seien hier stark vertreten. Dass es Rassismus in der Polizei gebe könne man nicht bestreiten, er wehre sich aber gegen den Begriff des strukturellen Rassismus. Der Umgang mit Rassismus in der Polizei ließe zu wünschen übrig: Jedes Polizeirevier hätte ein bis zwei Beamte, die Sprüche bringen oder anders rassistisch auffallen würden. Es mangele hier an einer offenen Fehlerkultur. Auf die Nachfrage der SPD-Abgeordneten Hofmann, ob es denn nicht fatal sei, wenn nach der Tat bekannt würde, dass Polizisten des Frankfurter SEK in rechtsextremen Chatgruppen sind, bejahte Feltes dies. Im Einsatz ließe sich das aber nicht überprüfen, dies müsse vorher geschehen. Er kritisierte die dominante Männlichkeitskultur in solchen Spezialeinheiten, die „solche Leute“ anziehe.
Die AfD sprach Feltes auf die Aussagen von Prof. Bannenberg in der vorherigen Sitzung an, dass es sinngemäß natürlich sei, dass Opfer den Eindruck hätten, dass etwas schief gegangen sei. Feltes widersprach dem deutlich: Dies sei ein Defizit, das abgeschafft werden müsse. Ein ‚das ist immer so, damit müssen wir uns abfinden‘ dürfe nicht sein, „sondern im Gegenteil: das müssen wir ändern!“
Nach knapp drei Stunden wurde Thomas Feltes als Sachverständiger entlassen. Nach der Mittagspause wurde Jürgen Wettig angehört, der als psychiatrischer Sachverständiger dem Prozess gegen den Vater des Täters wegen Beleidigungen beiwohnte und über diesen als Sachverständiger vor Gericht aussagte. Er wurde allerdings nur wenige Minuten öffentlich befragt, da er zum Täter selbst nur wenig sagen konnte und seine Aussagen zum Vater in nicht-öffentlicher Sitzung gemacht werden sollte. Damit endete die siebte öffentliche Sitzung.