In der sechsten öffentlichen Sitzung des Untersuchungsausschusses 20/2 waren drei Sachverständige zum Komplex Polizeitaktik, Ermittlungen und Präventionsmaßnahmen von Behörden geladen. Obwohl alle drei von den Regierungsfraktionen geladen waren, widersprachen sie sich mitunter in ihren Bewertungen zu möglichen Versäumnissen durch die Behörden im Vorfeld der Tat. Wirklich konkrete Angaben konnte aber keine:r von ihnen machen, da alle keine Akteneinsicht hatten.
Wie vor jeder Sitzung des Untersuchungsausschusses zum rassistischen Anschlag in Hanau gab es auch am 7. März 2022 auf dem Dernschen Gelände in unmittelbarer Nähe zum Landtag eine Mahnwache der Initiative 19. Februar und ihrer Unterstützer:innen, die Aufklärung und Konsequenzen forderten, während sie Passant:innen an den Anschlag erinnerten.
Drinnen im Landtag startete mit wenigen Minuten Verspätung die zweite Sachverständigen-Sitzung. Geladen waren drei Sachverständige zum Themenkomplex Polizeitaktik, Polizeieinsatz und (ausgebliebene) polizeiliche Ermittlungen im Vorfeld. Alle drei waren auf Antrag der Regierungsparteien CDU und GRÜNE geladen.
Der erste Sachverständige war der Polizeipräsident des Polizeipräsidiums Hamm Thomas Kubera. Zu seiner Vita und seiner Qualifizierung gab er an, seit vier Jahrzehnten bei der Polizei in NRW zu arbeiten, an der deutschen Polizeihochschule als Fachbereichsleiter für Einsatzmanagement zu lehren und Mitglied einer Vorschriftenkommission zu sein. Er begann seine Aussage mit einem ca. einstündigen Vortrag inklusive Powerpoint-Präsentation mit dem Titel „Einsatztaktik und Krisenmanagement“. Seinen Vortrag gliederte er in vier Teile: Im ersten Teil stellte er die unterschiedlichen Ebenen von Regelungen für Einsätze dar, von der Ebene der Grundrechte bis hin zu einzelnen polizeiinternen Leitfäden. Als zweites ging er auf die besonders zentrale polizeiliche Dienstvorschrift 100 (nicht öffentlich zugängig) in ihrer damals geltenden Form ein und erklärte, dass aus der unterschiedlichen Klassifizierung des Einsatzes, z.B. als politisch motivierte Kriminalität oder als Amoktat, auch unterschiedliche Handlungsmaßnahmen resultieren. Der Klassifizierung komme daher eine besondere Bedeutung zu, der Motivation des/der Täter:innen zu Anfang aber nicht. Anschließend ging Kubera auf einzelne landesspezifische Regelungen in Hessen ein.
Im Anschluss übertrug er die Vorschriften auf den Anschlag in Hanau. Zuvor machte Kubera jedoch deutlich, dass er keinerlei nicht-öffentliche Informationen zu dem Anschlag hatte und seine Datengrundlage für diese Beurteilung also „äußerst knapp“ war.
Das Vorgehen der Polizei am ersten Tatort am Heumarkt hielt er für nachvollziehbar. Es hätte aufgrund der Notrufe eine Erstklassifizierung gegeben, eigene Kräfte seien hingefahren und andere angefordert worden. Explizit nicht bewerten konnte er die getroffenen Fahndungsmaßnahmen. Wenn der Name des Täters zu diesem Zeitpunkt bekannt gewesen wäre, hätte man öffentliche Informationen über ihn sammeln können, um Hinweise zu bekommen, das könne er jedoch nicht bewerten.
Bezüglich des Verhaltens der Einsatzkräfte am zweiten Tatort sprach Kubera von einer Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Nicht alles, was man hätte tun können, hätte man auch wirklich tun können. Die taktischen Vorgaben für solch einen Einsatz sähen eine Aufgabenteilung zwischen der Polizei und der Verwaltung vor. Die Polizei konzentriere sich auf das Taktische, alles Weitere, wie die psychosoziale Betreuung, sei Aufgabe der nicht-polizeilichen Kräfte.
Zum dritten Tatort, dem Wohnhaus des Täters, gab Kubera Auskunft über verschiedene Zugriffsarten der Polizei und welche hiervon Spezialkräfte erforderten. Der Zugriff durch Spezialkräfte der Polizei um 03:03 schien ihm nicht unverhältnismäßig, allerdings betonte er erneut, dass er keine Informationen habe, wann das SEK eingetroffen sei.
In der anschließenden Befragung durch den Ausschussvorsitzenden Marius Weiß, äußerte der Sachverständige Verständnis darüber, dass Polizist:innen über die toten Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov gelaufen seien: Dies werde in Trainings der Polizei explizit so beigebracht, ggf. über Verletzte und Tote drüber zu steigen, für eine erste grobe Sichtung und Sicherung der Umgebung. Von den Abgeordneten der Fraktionen wurde Kubera mit einer Reihe von Detailfragen zum Polizeieinsatz konfrontiert, etwa ob die Anzahl der Polizeikräfte, die Zeit, bis sie eintrafen, ihr Verhalten unter psychischer Belastung etc. ungewöhnlich seien oder nicht. Zu fast allen Punkten äußerte er Verständnis für die Polizei und wies daraufhin, dass dies nicht unüblich sei. Er sagte jedoch auch, dass er für eine genaue Beurteilung weitere Unterlagen wie Funkprotokolle und Details zur Ermittlungsführung bräuchte und so einige Dinge nicht beurteilen könne oder ihm Vorschriften zu Einzelheiten nicht bekannt seien.
Anhörung Sachverständiger Rettenberger
Der zweite Sachverständige des Tages war Martin Rettenberger, Direktor der kriminologischen Zentralstelle des Bundes und der Länder in Wiesbaden. Er ist beteiligt an einem Forschungsprojekt „Radar rechts“ des Bundesinnenministerium und des BKA zur Gefährlichkeitsanalyse. Zentrale Frage sei hierbei, inwiefern Taten, wie die in Hanau, hätten verhindert werden können. Das Projekt stehe in seiner finalen Phase, genaue Ergebnisse könnten aber noch nicht präsentiert werden. Im Falle des Attentäters von Hanau halte er es für unwahrscheinlich, dass sich anhand der vorliegenden Informationen im Vorfeld der Tat eine Gefährlichkeit habe absehen lassen, da der Täter einer Gruppe von Terroristen angehörte, die nur virtuell vernetzt ist. Allerdings betonte auch Rettenberger, dass auch er nur öffentlich bekannte Informationen zum Fall, wie die Pressemitteilungen der Staatsanwaltschaft (StA) Hanau habe und keine Akteneinsicht.
Man habe verschiedene Informationen über den Täter, sodass man im Nachhinein ein relativ umfangreiches Bild habe. Einige Indikatoren seien Warnhinweise, etwa dessen schwerwiegende psychische Erkrankung, seine Persönlichkeitshaltung, sein Hass auf Frauen, seine auf eine Personengruppe gerichtete Aggressivität usw. Wenn man diese Biografie in der Rückschau sehe, dann liegen die einzelnen Indikatoren in Verbindung miteinander. Er könne gut verstehen, dass man dann die Annahme habe, dass seine Gefährlichkeit doch hätte gesehen werden müssen, aber das sei ein „Rückschaueffekt“. Die einzelnen Indikatoren wie die Anzeigen bei der GBA und StA Hanau und die Website des Täters seien einzeln gesehen kein Moment gewesen, eine unmittelbare Gefahr abzuleiten. Auf Nachfrage erklärte er aber, die Schreiben an GBA und StA und die Website des Täters persönlich nicht zu kennen. Rettenberger plädierte für ein einheitliches Dokumentationssystem und ein niedrigschwelliges System, in dem Behörden solch relevante Informationen an eine Expertenkommission zur Einschätzung weitergeben würden. Eine große Herausforderung bleibe die Gefahrenanalyse dennoch.
Erneut auf die Videos und Pamphlete des Täters angesprochen gab er an, keine Auskunft für Behörden machen zu können, jedoch vermute er, dass solche Schreiben in einer Vielzahl in Behörden eingingen. Mitentscheidend in der Bewertung solcher Schreiben u.Ä. sei das „leakerage“ Phänomen, also ob darin direkte oder indirekte Ankündigungen solcher Taten zu finden seien. Auf die Frage der LINKEN-Abgeordneten Sönmez, ob die Passage in der Anzeige „Dies ist die dritte und finale Anzeige“ nicht eine solche Ankündigung sei antwortete Rettenberger, man könne daraus nicht per se eine Anschlagsplanung ableiten. Immer wieder wiederholte er, es gebe eine Reihe an Indikatoren, die einzeln betrachtet keine genaue Schlussfolgerung auf eine Anschlagsplanung zu lassen würden, sondern nur rückblickend in der Gesamtschau. Auf Nachfrage erklärte Rettenberg, dass es aus kriminologischer Sicht ein sinnvoller Schritt gewesen wäre, abzuklären, ob eine Person, die ein solches Schreiben an Behörden verschickt, auch Zugang zu Waffen hat. Er sei allerdings kein Experte im Waffenrecht. Grundsätzlich ständen Patienten- oder Datenschutzrichtlinien mitunter im Gegensatz zu einer Gefährdungsanalyse und müssten miteinander abgewogen werden.
Die Radikalisierung spiele sich bei solch terroristischen „Einzeltätern“ über einen langen Zeitraum und primär intrapsychisch ab, so Rettenberger. Daneben kämen noch persönliche und virtuelle Kontakte. Hier spielt es einen großen Faktor, dass die Kontakte sich gegenseitig bestärken. Der Großteil der Radikalisierung bleibe aber intrapsychisch. Wie der psychologische Gutachter Saß kam auch der Psycholge und Kriminologe Rettenberger zu dem Schluss, dass es ein Zusammenspiel von Rassismus und psychischer Erkrankung im Falle des Täters von Hanau gewesen sei. Schizophrenie und Rassismus ließen sich hier kaum trennen, so Rettenberger.
Nach seiner öffentlichen Befragung wurde der Sachverständige noch in geheimer Sitzung über den Vater des Täters angehört.
Anhörung Sachverständige Bannenberg
Als dritte und letzte Sachverständige des Tages wurde die Professorin Britta Bannenberg von der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Uni Gießen geladen. Sie beschäftigt sich nach eigenen Angaben seit 20 Jahren mit Amoktaten, seit dem Anschlag in Paris 2015 auch mit terroristischen Taten. Teilweise würden sich beide Bereich überschneiden, teilweise aber auch unterscheiden. Seit 2015 biete sie auf ihrer Homepage ein Beratungsangebot an für Menschen, die befürchten, dass eine Person in ihrem Umfeld eine Amoktat plant, jedoch Hemmungen haben, sich direkt an Behörden zu wenden.
Auch sie hatte keine nicht-öffentlichen Informationen zur Tat in Hanau. „Ich kann ganz konkret zum Ablauf in Hanau aber nichts sagen, was fundiert wäre“, so Bannenberg. Sie habe sich aber mit dem Täter beschäftigt und im Nachhinein ein Fachbuch zu rechtsterroristischen Tätern veröffentlicht, allerdings lagen auch dessen Pamphlet und Video ihr nur teilweise vor. Bannenberg sieht Parallelen in Amoktätern und Terroristen. Bei einem Drittel der erwachsenen Täter liege eine paranoide Schizophrenie zugrunde. Beim Täter von Hanau sei diese in Kombination mit einer rechtsextremen Ideologie aufgetreten.
Bannenbergs Ansicht nach ließen sich Terror- und Amoktaten verhindern, wenn äußere Anzeichen, wie Tötungsfantasien, vom Umfeld wahrgenommen würden. Sowohl Amoktäter als auch terroristische „Einzeltäter“ bräuchten eine längere Zeit, bis sie in die Vorbereitungsphase schritten. Dies könnten sechs Monate, oder auch zwei Jahre sein. Vor der Tat würden sie oft vermittelt ihren Hass öffentlich äußern und Taten indirekt ankündigen. Als Beispiel nannte Bannenberg Schreiben mit Drohungen an Behörden. Sie habe keine Ahnung, ob der Täter von Hanau so etwas gemacht habe, aber wer so etwas tue „darf niemals Sportschütze sein“, so Bannenberg. Die Polizei sei in der Regel bei solchen Schreiben angehalten zu kontrollieren, und tue dies auch, ob eine Person ,die solche Schrieben verschicke, Zugang zu Schusswaffen habe.
Der Vorsitzende Weiß klärte die Sachverständige daraufhin auf, dass der Täter von Hanau 2019 zwei fast gleichlautende Strafanzeigen bei der StA Hanau und GBA gestellt habe, jeweils mit 19 Seiten Umfang, voll von Rassismus, Verschwörungstheorien und Paranoia. Bannenberg erklärte hierzu, wenn darin in irgendeiner Art stehe, es müsse gehandelt werden oder sich der Schreibende selbst zum Handeln aufgerufen fühlt, hätte man mindestens nach einer Schusswaffenerlaubnis überprüfen müssen. In den Schreiben erwähnte der Täter unter anderem, dies sei seine „dritte und finale Anzeige“. Weiß sprach die Sachverständige auf die Website des Täters an, die vier Monate vor dem Anschlag online war und fragte sie, ob dieses Verhalten zu ihren Forschungen passe. Bannenberg erklärte, dies sei immer unterschiedlich aber könne durchaus passieren. Bei einigen Taten gingen solche Bekenntnisse wenige Stunden zuvor online, wie beim Attentäter von Oslo und Utoya, bei anderen früher. Viele Täter spielten mit dem Gedanken, sich bei ihren Taten selbst zu töten oder töten zu lassen. Die Täter wollten durch diese Taten selbst berühmt werden, so Bannenberg.
Als zweites fragte Weiß nach dem Komplex der polizeilichen Einsatztaktik und Krisenmanagement. Es gehe um den Abtransport von Verstorbenen, Abstimmungen der Behörde und ähnliches. Bannenberg erklärte, dass es jedes Mal eine Tragödie sei, die automatisch zu Fragen führe. Es werde immer behauptet, hätten Einsatzkräfte vor Ort anders gehandelt, hätten ein oder mehrere Menschen gerettet werden können. Chaos sei aber nicht vollkommen zu kontrollieren, Unmögliches sei nicht zu verlangen. Auf eine spätere Nachfrage der AfD sagte Bannenberg erneut, Amoktaten und Terror brächten es mit sich, dass die Polizei typischerweise zu spät komme, dies lasse sich nicht verhindern. Mehrfachtötungen brächten die Polizei immer an ihre Grenzen. Das Chaos ausbreche, sei naturgemäß.
Der CDU-Abgeordnete Müller fragte in der anschließenden Befragung durch die Abgeordneten der Fraktionen, welche Möglichkeiten Behörden gehabt hätten unter der Hypothese, dass der Täter zwar möglicherweise krank gewesen sei, aber nicht auffällig und jegliche Angabe oder Stellungnahme verweigert hätte. Bannenberg antwortete, dass Prävention immer ein informeller Spielraum sei. Die Polizei könnte beispielsweise Gefährderansprachen führen. Ihrer Erfahrung nach haben gerade jene Personen ein großes Redebedürfnis. Es sei sehr selten, dass solch eine Person keine Angaben machen wolle. Sollten sich hier Auffälligkeiten ergeben, könnte solch eine Person wegen Fremd- oder Selbstgefahr in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht werden und die Voraussetzungen für eine Waffenerlaubnis in Frage stellen. Oft herrsche bei solchen auffälligen Personen auch die Bereitschaft für eine ambulante Therapie.
Da die Antwort der Sachverständigen dem Abgeordneten Müller offenbar nicht ganz passte, fragte er erneut: „Wenn er nicht auffällig ist, außer dass er schwurbelt, dann haben wir keine rechtlichen Möglichkeiten, oder?“. Bannenberg antwortete, nein, in dem Fall könne man wirklich nichts machen, aber das sei vom Abgeordneten Müller auch ein bisschen gebogen. Überprüfen sollte man es dann, wenn Anzeichen für eine Bedrohung vorlägen. Auf die Nachfrage der SPD-Abgeordneten Hofmann angesprochen, dass spätestens vier Monate zuvor der Täter sein Manifest ins Internet stellte, äußerte Bannenberg, dass, wenn darin Andeutungen gefallen seien, man dies als Anlass für eine Überprüfung hätte nehmen können. Dies sei etwas, was die Polizei prüfen könne, aber auch nicht muss. Bannenberg machte in ihrer Anhörung immer wieder den Punkt stark, dass man Schreiben, wie die des Attentäters von Hanau, auf Bedrohlichkeit überprüfen müsse. Wenn Andeutungen oder andere Anzeichen für eine Bedrohung vorlägen, könne man in den rechtlichen Prozess eingreifen.
Nach neun Stunden endete damit die sechste Sitzung des UNA Hanau. Da alle drei Sachverständigen keine Einsicht in nicht-öffentliche umfangreiche Informationen zum Anschlag hatten, blieb die Aussagekraft ihrer Anhörungen allerdings stark begrenzt mit wenig Bezug zu den tatsächlich offenen Fragen.