Bericht zur 36. öffentlichen Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses im hessischen Landtag (24.03.2017)

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In der Sitzung am 24.03. waren der ehemalige Innenminister Boris Rhein, die Mitarbeiterin des hessischen Verfassungsschutzes (LfV Hessen) Iris Pilling und der ehemalige Mitarbeiter des LfV Hessen Frank Ulrich Fehling geladen. Thema war unter anderem die Entscheidung Bouffiers, ein Verhör der V-Leute Andreas Temmes nicht zuzulassen. Desweiteren die Befassung mit der NSU-Mordserie vor dem Mord an Halit Yozgat durch das LfV und Temme sowie ein möglicher Kontakt zwischen Temme und Bouffier vor dem Mord in Kassel 2006, durch einen „Arbeitskreis der CDU im LfV“.

Als erster Zeuge der 36. öffentlichen Sitzung war der ehemalige Innenminister (2010 – 2014) und aktuelle Wissenschaftsminister Hessens Boris Rhein geladen. Vor 2011 war er bereits Staatssekretär im Innenministerium unter Volker Bouffier. Rhein begann mit einer Ausführung, in der er, wie in den darauffolgenden Fragerunden, die Entscheidung seines Amtsvorgängers Bouffier, die Polizei die V-Leute Andreas Temmes nicht verhören zu lassen, verteidigte. Er begründete dies mit den Sicherheitsinteressen des Landes Hessen und des Bundes, da unter den V-Leuten auch Quellen aus dem islamistischen Bereich gewesen, die zu dieser Zeit unerlässlich gewesen seien. Hierbei verteidigte er zudem die Arbeit des Verfassungsschutzes mit V-Leuten im Allgemeinen, trotz der nachgewiesenen Unterstützung des NSU-Kerntrios durch V-Leute wie Tino Brandt: V-Leute seinen unerlässlich für einen Nachrichtendienst, nichts sei damals wichtiger gewesen als Quellen aus dem islamistischen Bereich, so Rhein. Als Konsequenz aus dem NSU-Komplex habe man in Hessen die Ausbildung für LfV-Mitarbeiter*innen reformiert. Aus hessischer Sicht habe es aber keine Fehler der Sicherheitsbehörden gegeben sagte Boris Rhein vor dem Ausschuss.
Rhein erwähnte, im November 2011 nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios, seien Beamt*innen der Generalbundesanwaltschaft (GBA) im hessischen LfV unangemeldet aufgetaucht und hätten Akteneinsicht verlangt. Als er darüber informiert wurde, saß er zufällig mit dem Generalbundesanwalt zusammen und fragte bei diesem nach um die Untersuchung der GBA Beamt*innen zu stoppen. Dieser ließ das Verlangen nach Akteneinsicht seiner Beamt*innen sofort abbrechen, später entschuldigte sich ein Abteilungsleiter der GBA bei Rhein. Dieser verteidigte im Untersuchungsausschuss diese Verhinderung einer unangemeldeten Akteneinsicht: Diese vorher anzumelden sei „eine Frage der Höflichkeit und des mitteleuropäischen Umgangs“, so Rhein (fast zeitgleich wurden im Bundesamt für Verfassungsschutz massiv Akten mit Bezug zum NSU vernichtet).
Im Mai 2012, nach seinem gescheiterten Oberbürgermeister-Wahlkampf, wies Rhein den Verfassungsschutz in Hessen an, alle Akten des LfV zwischen 1992 und 2011 mit einem Bezug zum Umfeld des NSU prüfen zu lassen. Hierbei habe das LfV Hessen nach eigenen Angaben keine Bezüge des NSU nach Hessen gefunden, daher sehe er keine Fehler von hessischen Sicherheitsbehörden, so Rhein.
Des Weiteren war eine E-Mail von Iris Pilling an die LfV-Außenstelle in Kassel Thema: In der Mail von März 2006 informierte Pilling über die Ceska-Mordserie und wies die V-Leute-Führer an, ihre Quellen hiernach zu befragen. Die Mail ist zentral in der Frage, ob Temme bereits vor dem 6. April über die Mordserie des NSU informiert gewesen war. Ein Ausdruck der Email, der verschiedene Paraphen zeigt, darunter vermutlich auch Temmes, bekam der hessische Untersuchungsausschuss erst kürzlich; der Untersuchungsausschuss des Bundestags bekam sie zuvor ebenfalls nicht, als er Akten aus Hessen geliefert bekam. Die Akten wurden zu Rheins Amtszeit zusammengestellt und an den Bundestag geliefert. Er habe aber mit der Zusammenstellung der Akten nichts zu tun gehabt, so Rhein. Damit seien andere Teile der Behörde beauftragt gewesen.
Im Anschluss wurde Boris Rhein in geheimer Sitzung befragt.

Als zweite Zeugin war Iris Pilling geladen. Diese bestätigte zu Anfang auf Nachfrage, dass es sich nach ihrer Sicht bei einer der Paraphen auf dem Ausdruck ihrer Mail von März 2006 um das Kürzel Andreas Temmes handelt. Demnach müsste Temme die Mail zur Kenntnis genommen und abgezeichnet haben. Da sie am 24.03.2006 versandt wurde liegt der Verdacht nahe, dass Temme vor dem Mord an Halit Yozgat mit der Mordserie dienstlich befasst gewesen war. * Pilling sagte auf Nachfrage hierzu aus, sie wisse nicht mehr, ob sie die Polizei im Juni 2006 in einer Besprechung wegen des Verdachts gegen Temme über diese Email informiert habe oder nicht.
Über die Aussagen von Temmes Kollegin Jutta E., Temme habe die Treffberichte mit seinen Quellen aufgebauscht und die Quellen damit wichtiger gemacht, als sie wären, konnte Pilling nichts sagen: Wenn dem so wäre, hätte sie darüber informiert werden müssen. Dies sei aber, solange Temme beim LfV war, nicht geschehen. Pilling bestätigte noch einmal ihre Aussage, dass Andreas Temme nicht dienstlich im Internetcafe von Halit Yozgat gewesen sei.
Im November 2011, kurz nach der Selbstenttarnung des NSU-Kerntrios, veranlasste der LfV-Präsident Desch eine erste Sichtung von Akten auf der Suche nach einem Bezug zum NSU. Im Mai 2012 wurde dann auf Befehl Boris Rheins eine weitere, umfangreichere Sichtung durchgeführt. Pilling erstellte dazu eine Liste mit etwa 100 Begriffen wie Personennamen, Waffen oder Orten, nach denen dann gesucht wurde. An der Suche waren zeitweise 50 Mitarbeiter*innen des LfV beschäftigt. Einen Bezug des NSU konnte das LfV jedoch nach eigenen Angaben nicht feststellen.
Zu Temmes V-Mann Benjamin Gärtner sagte Pilling aus, dieser habe dem LfV Unterlagen übergeben, die eigtl. nur Mitglieder der Deutschen Partei (DP) bekämen, so zum Beispiel interne Unterlagen zu einem Streit zwischen dem Vorsitzendem Heiner Kappel und dem restlichen Vorstand, ob sich die Partei weiter Richtung Republikaner öffnen solle. Gärtner hatte vor dem Untersuchungsausschuss ausgesagt, er habe das LfV nicht mit Informationen über die DP versorgt und kenne diese Partei gar nicht. Er widersprach damit Andreas Temme und anderen Mitarbeiter*innen des LfV, die aussagten, Gärtner sei maßgeblich auf die DP angesetzt gewesen. Zudem erklärte Pilling, erst in der BUA Sitzung am 15.12.2016 in Berlin erfahren zu haben, dass Gärtner stärker mit der Szene verbunden war als dies dem LfV bekannt gewesen sei.
Im Anschluss wurde Iris Pilling in geheimer Sitzung befragt.

Zuletzt wurde in dieser Sitzung der ehemalige Leiter der Kasseler Außenstelle des LfV Frank-Ulrich Fehling befragt. Gleich zu Beginn wurde ihm der Ausdruck der Email von Iris Pilling vorgehalten. Die fragliche Paraphe kenne er nicht, so Fehling, es könne sich aber um Temmes handeln, sagte er von sich aus. Er selbst habe das Schriftstück nicht abgezeichnet, vermutlich sei er zur fraglichen Zeit dienstlich unterwegs gewesen.
Die Möglichkeit, dass Temme die Treffberichte mit seinen V-Leuten aufgebauscht und die Quellen damit wichtiger gemacht habe, als sie waren, hielt Fehling vorsichtig für möglich. In der weiteren Befragung kam zudem heraus, dass bei der Durchsuchung Temmes Büros am 21. April 2006 ein verschlossener Panzerschrank, der sich im Büro befand, nicht durchsucht wurde. Erst zu einem späteren Zeitpunkt wurde der Schrank von LfV-Juristen aus Wiesbaden durchsucht, so Fehling.
Zuletzt offenbarte Fehling, dass er Temme mindestens zweimal zu einem Grillfest des „Arbeitskreis der CDU im LfV“ mitgenommen habe, z.B. am 12.09.2000. Das jährliche Treffen fand auf dem Gelände der Wasserschutzpolizei in Wiesbaden statt. Bei mindestens einem der gemeinsamen Besuche beim „Grillfest“ war auch der damalige Hessische Innenminister Volker Bouffier anwesend, bekräftigte Fehling auch nach wiederholter Nachfrage. Die Feiern fanden offenbar im kleinen Kreis statt, etwa zwölf bis 15 Personen, hieß es im Ausschuss. Daher besteht die Möglichkeit, dass sich Temme und Bouffier bereits bei einem der „Grillfeste“ kennengelernt hatten, bevor Bouffier 2006 darüber entschied, ob Temmes Quellen verhört werden dürfen oder nicht.

*Die Fraktion der Partei DIE LINKE im hessischen Landtag hatte deswegen wenige Tage zuvor Strafanzeige gegen Andreas Temme gestellt.

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